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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0018
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18

Hermann Oncken:

nicht umhin, ihn Macht üben zu lassen. Sein Ausgangspunkt nötigt
ihn aber, für solche Machtausübung nach ethischen, naturrecht-
lichen, humanitären Begründungen zu suchen: wir haben gesehen,
daß er gerade mit diesen Stützen nicht nur auf denselben Weg wie
Machiavell gerät, sondern nur noch viel machiavellistischer wirkt.
Da es sich um einen ernst angelegten Denker handelt, kommt man
mit einer oberflächlichen Erklärung nicht aus; zumal wenn man
sieht, daß es sich in dem Falle des Morus nicht um einen indivi-
duellen Einzelfall handelt, sondern um eine Art des innern Ver-
haltens zu unserm Problem, die wie eine fortlaufende Linie durch
das politische Denken der Engländer geht. Hat doch eine so ethisch
gerichtete Natur wie diejenige Carlyles es fertig gebracht, den
Opiumkrieg gegen China (1860), eine besonders anrüchige Art des
Handelskrieges, mit folgenden Sätzen zu rechtfertigen: „Alle Men-
schen treiben Handel mit allen Menschen, falls es sich bequem
beiderseits machen läßt; durch den Schöpfer sind wir sogar dazu
verpflichtet worden. Hatten wir nicht mit unsern chinesischen
Freunden, die sich schuldigerweise weigerten, mit uns unter diesen
Umständen Handel zu treiben, zu argumentieren, zuletzt selbst
durch die Kanonen, um sie zu überzeugen, daß sie Handel treiben
müßten?“ Das ist eine Art der Argumentierung, die so bei Nicht-
engländern kaum anzutreffen sein dürfte, in die Denkweise der Uto-
pier des Morus aber sehr gut hineinpaßt.
In der Tat hat es in der Geschichte des englischen Imperialismus
neben den harten Conquistadorennaturen, die nirgends fehlen und
keiner Theorie bedürfen, zu allen Zeiten nicht an einer Ideologie
humanitären und moralisierenden Gepräges gefehlt: sie ist spezifisch
englisch. Der Puritaner Cromwell hat den Gedanken der englischen
Weltmission an dem Gegensatz zu dem katholischen Spanien ent-
wickelt, „um den Worten der Bibel die Herrschaft auf Erden zu
verschaffen“ — wir haben im Jahre 1914 erlebt, daß sogar ein
führender englischer Jesuit den Krieg gegen uns als einen Kreuz-
zug „für das Christentum“ zu predigen über sich gewann. Als die
Engländer sich im spanischen Erbfolgekriege für das Gleichgewicht
Europas, das eigentliche machtpolitische Bedürfnis des Inselreichs,
einsetzten, hieß der offizielle Schlachtruf: „liberty, religion, trade“
— ein Dreibund des Arguments, der allen Bedürfnissen gerecht
werden konnte. Im 19. Jahrhundert spielt in der Außenpolitik der
Freihandelspartei der Weltfrieden und die Einheit des Weltwirt-
schaftsgebietes eine ähnliche Rolle. Der wieder aktiver werdende
 
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