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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0020
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20

Hermann Oncken:

Machtausweitung über das sie schützende Meer hinwegführen wollte,
der mußte allerdings eine innerlichere Rechtfertigung zur Hand
haben, als das den Kontinentalen so selbstverständliche Notrecht:
an den bedrohten Grenzen für das eigene Dasein einzutreten. Auf
diese Weise wird das englische politische Denken gerade dann, wenn
es sich machtpolitisch betätigt, auf das Bedürfnis nach ethischen
Argumentierungen hinausgedrängt, um der als böse gefühltenMacht
ein glaubhaftes Recht zur Seite zu stellen oder ihr wenigstens
einen edleren Schein zu geben. Den Verzicht auf diese Bemüh-
ungen aber, das Nehmen des Lebens so wie es ist, wie es sich für
Machiavell von selbst versteht, wird man als einen Mangel emp-
finden: eben solcher ,,Machiavellismus“ ist es, den die Engländer
uns Deutschen im Weltkriege immer von neuem, ihren innersten
Instinkten folgend, vorgeworfen haben.
Indem die Engländer nun ihrerseits einen andern Weg ein-
schlagen, indem sie, wie schon Morus es tat, Machtwillen und ethi-
sches Gebot in eins zu setzen versuchen und sich in die innersten
Widersprüche dieses Versuches verwickeln, ergibt sich etwas spe-
zifisch Englisches, was wiederum uns Deutschen als Zweideutigkeit
und Heuchelei erscheint und mit der Charaktereigentümlichkeit in
Verbindung gebracht wird, für die die Engländer selber die Bezeich-
nung ,,cant“ haben. In Wahrheit liegt nur eine historisch begrün-
dete (und darum nicht eigentlich „moralisch“ zu erledigende) Ver-
schiedenheit zwischen der deutschen und der englischen Mentali-
tät vor, was das Verhalten zu dem Sittlichen und dem Politischen
und den Berührungslinien beider Welten betrifft. Sowohl die Nei-
gung zur getrennten Buchführung als auch die Forderung ihrer
innerlichen Verbindung haben ihre tiefe Berechtigung, aber beide
haben auch ihre Gefahren. Die deutsche Einstellung kann bei
aller reinlichen Trennung, doch zu einer Bequemlichkeit führen,
die auf der einen Seite die Macht von aller ethischen Besinnung
und auf der andern Seite das Ethos von der Wirklichkeit des Lebens
allzuweit fernhält. Über den „cant“ und seine abstoßenden Begleit-
erscheinungen haben Engländer selbst vernichtend genug geurteilt;
um ihn wenigstens zu erklären, hat man ihn wohl als einen „furcht-
samen Versuch“ bezeichnet, der dem Volke dazu verhelfen solle,
nicht in Staub und Schmutz zu versinken; und auf seinem Grunde
liegt immerhin noch ein bewußtes Sicherinnern an die sittliche For-
derung, die man um keinen Preis aus den Augen verlieren möchte.
 
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