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Gerhard Ritter:
die das Regiment Karls VI. und die Anfänge Karls VII. kenn-
zeichnet. Ihre würdelose Unterwürfigkeit gegenüber den in Paris
einrückenden Engländern und ihre unpatriotische Haltung beim
Prozeß der Johanna Darc waren nur äußerliche Symptome eines
inneren Verfalls, der durch die Ausschließung nichtfranzösischer
Kleriker von französischen Pfründen in der pragmatischen Sanktion
von Bourges (1438) und die dadurch veranlaßte Fernhaltung aus-
ländischer Gelehrter1 noch gesteigert wurde. Es wird allgemein
anerkannt, daß die lebhafte politische Tätigkeit der Universität auf
den großen Reformkonzilien der Kirche ihrer wissenschaftlichen
Leistung in keiner Weise entsprach. Bemerken wir vor allem, daß
die Pariser Nominalisten selbst von einem Überwiegen ihrer Partei
während dieser Epoche nichts zu berichten wissen2! Den Zustand
des Pariser Lehrbetriebes um die Mitte des Jahrhunderts kenn-
zeichnet nichts besser als die große Reform von 14523, die Karl VII.
mit Hilfe des päpstlichen Kardinallegaten d’Estouteville durch-
setzte. Da ist nicht die Rede von der Erneuerung des Thomismus
u. dgl., sondern von weit mehr elementaren Dingen: man müht sich
um die Abstellung der schlimmsten Ärgernisse, wie Faulheit, Völ-
lerei, Zuchtlosigkeit der Lehrer, Vernachlässigung aller Statuten
insbesondere bei den Anforderungen an Examinanden und Stu-
dierende; man verbietet Mißbräuche wie den, statt eigenen Vortrags
in den Kollegstunden irgend ein fremdes Heft von einem Studenten
vorlesen zu lassen u. dgl.! In der Tat ist es wichtig, bei der Betrach-
tung der Schulstreitigkeiten in der zweiten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts sich stets vor Augen zu halten, daß wir es hier mit einem
Geschlecht von Epigonen zu tun haben, deren wissenschaftliche
Leistungen aller und jeder Originalität entbehren4. Je geringer
die eigene Produktivität, um so gläubiger pflegt die Verehrung der
Schulhäupter und Vorbilder aus alter Zeit zu sein, um so erbitterter
dementsprechend die Parteilichkeit. Übrigens sollte man nach der
These Zarnckes, der die Erneuerung des Thomismus seit etwa 1450
mit der Wiedererhebung des Papsttums in enge Verbindung bringt,
eigentlich erwarten, daß der päpstliche Legat sich 1452 bemüht
1 Vgl. Denifle, Auctarium tom. II. introductio. 2 Gegen die oben
S. 5 mitgeteilte These Zarnckes (Narrenschiff, p. XIVff.). 3 Bulaeus
V, 562ff. 4 Das ist der stärkste Eindruck, den die Durchsicht der bei
Prantl IV 174ff. aufgezählten Schulbuchliteratur hinterläßt. Vgl. auch
die Schilderungen Duhems, Etudes sur Leon, da Vinci, bes. III, 97ff.,
161 ff. und Prantl IV, 1.
Gerhard Ritter:
die das Regiment Karls VI. und die Anfänge Karls VII. kenn-
zeichnet. Ihre würdelose Unterwürfigkeit gegenüber den in Paris
einrückenden Engländern und ihre unpatriotische Haltung beim
Prozeß der Johanna Darc waren nur äußerliche Symptome eines
inneren Verfalls, der durch die Ausschließung nichtfranzösischer
Kleriker von französischen Pfründen in der pragmatischen Sanktion
von Bourges (1438) und die dadurch veranlaßte Fernhaltung aus-
ländischer Gelehrter1 noch gesteigert wurde. Es wird allgemein
anerkannt, daß die lebhafte politische Tätigkeit der Universität auf
den großen Reformkonzilien der Kirche ihrer wissenschaftlichen
Leistung in keiner Weise entsprach. Bemerken wir vor allem, daß
die Pariser Nominalisten selbst von einem Überwiegen ihrer Partei
während dieser Epoche nichts zu berichten wissen2! Den Zustand
des Pariser Lehrbetriebes um die Mitte des Jahrhunderts kenn-
zeichnet nichts besser als die große Reform von 14523, die Karl VII.
mit Hilfe des päpstlichen Kardinallegaten d’Estouteville durch-
setzte. Da ist nicht die Rede von der Erneuerung des Thomismus
u. dgl., sondern von weit mehr elementaren Dingen: man müht sich
um die Abstellung der schlimmsten Ärgernisse, wie Faulheit, Völ-
lerei, Zuchtlosigkeit der Lehrer, Vernachlässigung aller Statuten
insbesondere bei den Anforderungen an Examinanden und Stu-
dierende; man verbietet Mißbräuche wie den, statt eigenen Vortrags
in den Kollegstunden irgend ein fremdes Heft von einem Studenten
vorlesen zu lassen u. dgl.! In der Tat ist es wichtig, bei der Betrach-
tung der Schulstreitigkeiten in der zweiten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts sich stets vor Augen zu halten, daß wir es hier mit einem
Geschlecht von Epigonen zu tun haben, deren wissenschaftliche
Leistungen aller und jeder Originalität entbehren4. Je geringer
die eigene Produktivität, um so gläubiger pflegt die Verehrung der
Schulhäupter und Vorbilder aus alter Zeit zu sein, um so erbitterter
dementsprechend die Parteilichkeit. Übrigens sollte man nach der
These Zarnckes, der die Erneuerung des Thomismus seit etwa 1450
mit der Wiedererhebung des Papsttums in enge Verbindung bringt,
eigentlich erwarten, daß der päpstliche Legat sich 1452 bemüht
1 Vgl. Denifle, Auctarium tom. II. introductio. 2 Gegen die oben
S. 5 mitgeteilte These Zarnckes (Narrenschiff, p. XIVff.). 3 Bulaeus
V, 562ff. 4 Das ist der stärkste Eindruck, den die Durchsicht der bei
Prantl IV 174ff. aufgezählten Schulbuchliteratur hinterläßt. Vgl. auch
die Schilderungen Duhems, Etudes sur Leon, da Vinci, bes. III, 97ff.,
161 ff. und Prantl IV, 1.