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Gerhard Ritter:
Vorzüge ihres „Weges“ zu rühmen. Was heben nun diese Reden
(die auch als frühe Versuche humanistischer Rhetorik sehr bemer-
kenswert sind und aus denen ich deshalb das Wesentliche im An-
hang mitteile) als wichtigste Differenzpunkte hervor ? „Einzig und
allein die Ansicht über die Universalienfrage“, so heißt es, „scheidet
den modernen vom alten Wege; denn alles, worin sie sonst noch
auseinandergehen, ist aus dieser Frage abzuleiten1.“ Deutlicher
kann man sich nicht Ausdrücken, und die genaue Sachkenntnis des
Redners und seiner Hörer erhöht noch wesentlich den Wert dieses
Zeugnisses2. Die moderne Methode — erfahren wir weiter — be-
gnügt sich nicht mit einer verworrenen und unterscheidungslosen
Erkenntnis der Dinge, sondern durchforscht und untersucht auf das
exakteste (distinctissime) die „Wesenheiten“ (quidditates) der Einzel-
dinge, spricht den Dingen die Universalität ab und läßt diese nur
in der (erkennenden) Seele gelten, als eine Art Begriff (nocio), der
entsteht als Sammelbegriff aus einer geringen und feinen Ähnlich-
keit (der Einzeldinge). Dieser Auffassung stimmen auch einige
(nonnulli astipulatores) unter den Alten bei3. Aber für den Redner
ist das nicht maßgebend. Rn Gegenteil rühmt er es als einen be-
sonderen Vorzug der via moderna, daß sie den Mut zu Neuerungen,
zur Fortbildung der älteren Theorien besitze und dem Jünger der
Wissenschaft den Zugang zu den Höhen der Philosophie wesentlich
zu erleichtern verstehe. Er ist kein unbedingter Lobredner der alten
Autoritäten. Haben es nicht die neueren Zeiten (er nennt Baldus
und Bartholus, also Vertreter des 14. Jahrhunderts) in der Kom-
mentierung des römischen Kaiserrechts zu höchst bedeutenden Lei-
stungen gebracht ? Steht es etwa anders auf dem Gebiete des
Kirchenrechts und der Medizin ? Warum soll die Philosophie
grundsätzlich von solchem Fortschreiten ausgeschlossen sein? Be-
darf nicht der überaus dunkle Text des Aristoteles allenthalben der
Kommentierung in leichterem und deutlicherem Stil ? Ein un-
verkennbarer Schwung humanistischer Zukunftsfreudigkeit weht
durch diese Ausführungen, und wir können schon hier die Beob-
achtung machen, daß die neue, aus Italien herüberdringende Be-
1 Clm. 7080, fol. 366: s. Beilage 1, II. 2 Vgl. damit das Schreiben
des Alex. Hegius an Agricola in Heidelberg, 17. 12. 1484: Cupio . . . ex te
scire, an Heideibergenses tuijam a Marsilio suo defecerint et universalia ante rem
iure et post rem et individuationis principia tractent an adhuc partes eius tuean-
tur. (Zs. d. berg. Gesch.ver. 1876, Bd. 11, S. 6-7.) 3 d.h. — im Zusammen-
hang — Vertreter der älteren Scholastik, nicht etwa Anhänger der via antiqua.
Gerhard Ritter:
Vorzüge ihres „Weges“ zu rühmen. Was heben nun diese Reden
(die auch als frühe Versuche humanistischer Rhetorik sehr bemer-
kenswert sind und aus denen ich deshalb das Wesentliche im An-
hang mitteile) als wichtigste Differenzpunkte hervor ? „Einzig und
allein die Ansicht über die Universalienfrage“, so heißt es, „scheidet
den modernen vom alten Wege; denn alles, worin sie sonst noch
auseinandergehen, ist aus dieser Frage abzuleiten1.“ Deutlicher
kann man sich nicht Ausdrücken, und die genaue Sachkenntnis des
Redners und seiner Hörer erhöht noch wesentlich den Wert dieses
Zeugnisses2. Die moderne Methode — erfahren wir weiter — be-
gnügt sich nicht mit einer verworrenen und unterscheidungslosen
Erkenntnis der Dinge, sondern durchforscht und untersucht auf das
exakteste (distinctissime) die „Wesenheiten“ (quidditates) der Einzel-
dinge, spricht den Dingen die Universalität ab und läßt diese nur
in der (erkennenden) Seele gelten, als eine Art Begriff (nocio), der
entsteht als Sammelbegriff aus einer geringen und feinen Ähnlich-
keit (der Einzeldinge). Dieser Auffassung stimmen auch einige
(nonnulli astipulatores) unter den Alten bei3. Aber für den Redner
ist das nicht maßgebend. Rn Gegenteil rühmt er es als einen be-
sonderen Vorzug der via moderna, daß sie den Mut zu Neuerungen,
zur Fortbildung der älteren Theorien besitze und dem Jünger der
Wissenschaft den Zugang zu den Höhen der Philosophie wesentlich
zu erleichtern verstehe. Er ist kein unbedingter Lobredner der alten
Autoritäten. Haben es nicht die neueren Zeiten (er nennt Baldus
und Bartholus, also Vertreter des 14. Jahrhunderts) in der Kom-
mentierung des römischen Kaiserrechts zu höchst bedeutenden Lei-
stungen gebracht ? Steht es etwa anders auf dem Gebiete des
Kirchenrechts und der Medizin ? Warum soll die Philosophie
grundsätzlich von solchem Fortschreiten ausgeschlossen sein? Be-
darf nicht der überaus dunkle Text des Aristoteles allenthalben der
Kommentierung in leichterem und deutlicherem Stil ? Ein un-
verkennbarer Schwung humanistischer Zukunftsfreudigkeit weht
durch diese Ausführungen, und wir können schon hier die Beob-
achtung machen, daß die neue, aus Italien herüberdringende Be-
1 Clm. 7080, fol. 366: s. Beilage 1, II. 2 Vgl. damit das Schreiben
des Alex. Hegius an Agricola in Heidelberg, 17. 12. 1484: Cupio . . . ex te
scire, an Heideibergenses tuijam a Marsilio suo defecerint et universalia ante rem
iure et post rem et individuationis principia tractent an adhuc partes eius tuean-
tur. (Zs. d. berg. Gesch.ver. 1876, Bd. 11, S. 6-7.) 3 d.h. — im Zusammen-
hang — Vertreter der älteren Scholastik, nicht etwa Anhänger der via antiqua.