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Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 7. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 2: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38041#0094
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Gerhard Ritter:

wird. Die Motive seiner Beweisführung vermögen wir jetzt voll
zu würdigen. Was ihn veranlaßte, den Unterschied der beiden viae
wesentlich im Lehrstoff zu suchen, statt in der Universalienfrage,
ist offenbar dieselbe Einsicht, die wir hier verfechten: die Erkenntnis
nämlich, daß der nominalistischen Erkenntnistheorie im Rahmen
der „modernen“ Schule gar nicht die Tragweite zukommt, die ihre
Gegner ihr vorwerfen — daß sie gar nicht in dem Sinne gegen das
metaphysische Denken gerichtet gewesen ist, wie es ihre thomisti-
schen Gegner glauben machen wollten. Daher Prantls Erregung
über den „pfäffischen Haß“ der Thomisten u. dgl. Statt nun aber
der sonderbaren Zwitternatur dieses späten Nominalismus nachzu-
gehen und ihn von innen heraus begreiflich zu machen (dazu gehört
freilich eine andere seelische Einstellung als Abneigung und Ironie),
glaubte er sich damit begnügen zu dürfen, daß er die Kennzeichen
der „modernen“ Schule an anderer Stelle suchte: in ihrer Vorliebe
für die „sermozinale Logik“, deren Entstehungsgeschichte er eigent-
lich erst entdeckt hatte. Ganz in die Irre führte auch dieser Weg nicht.
Eine Erneuerung des Thomismus konnte in der Tat (mindestens
theoretisch) auch eine Rückkehr zu den älteren, einfacheren Formen
der aristotelisch-thomistischen Logik und darum in gewissem Grade
ein Abstreifen späterer „terministischer“ Auswüchse bedeuten -
um so stärker, je einseitiger und energischer der alte Thomismus
neu belebt wurde. Duns Skotus, auf den die neuen Formen der
Logik bereits stärker eingewirkt hatten, stand auch hier in der
Mitte. Nur darf man über dieser Einsicht zweierlei nicht vergessen:
einmal, daß der entscheidende Anstoß zur Neubelebung der älteren
Systeme nicht etwa von den engeren logischen Problemstellungen
her kam, sondern aus dem Fortleben des alten Universalien-
problems; zum andern, daß die „terministische Logik“ zu der
Zeit, als der Streit um die viae ausbrach, bereits eine so überragende
Bedeutung im Universitätsunterricht gewonnen hatte, daß auch die
Reformer sie nicht mehr entbehren konnten. Der Unterschied des
„Lehrstoffes“ bedeutete deshalb nicht mehr, als höchstens ein
sekundäres Moment der Spaltung.
Es scheint, der vielfältig verworrene und dunkle Sachverhalt,
dem wir in dieser Untersuchung nachgehen, beginnt sich allmäh-
lich aufzuklären. Der starke Gärungsstoff, den einst Okkam mit
der nominalistisch-erkenntnistheoretischen Wendung der termini-
stischen Logik in die scholastischen Gedankenmassen geworfen
 
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