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Gerhard Ritter:
mitgewirkt haben sollen1, was in aller Welt gab sonst den
Anst oß ?
Die via antiqua, sagt Hermelink. Sie hat zunächst mit ihrem
Sinn für die „Realitäten“ das Studium der Mathematik, der Natur-
kunde, der Geschichte (!) wieder belebt. Zwar ist der Eifer der
Scholastiker für naturwissenschaftliche Dinge in Wien und Erfurt,
die beide rein okkamistisch waren, nachweislich größer gewesen
als in Köln, Heidelberg und Basel. Aber gerade das muß zur Be-
stätigung der These dienen: diese beiden Hochschulen dürfen
gewissermaßen als Ausnahmen gelten—sie bedurften der via antiqua
nicht mehr, da sie sich bereits selbständig, zum Teil mit Hilfe
italienischer Einflüsse, zu den res hingewandt und damit den termi-
nistischen Formalismus innerlich überwunden (!) hatten2. Inwie-
fern die via antiqua das Geschichtsstudium belebt haben soll, er-
fahren wir zwar nicht näher; vermutlich hängt aber auch das mit
dem „Realismus“ dieser Schule zusammen (?). In ähnlicher Weise
wird das stärkste und eigentliche Interesse der Humanisten:
die Bevorzugung der antiken Autoren vor den mittelalterlichen und
die Pflege eines ciceronianischen Stiles, aus den Tendenzen der via
antiqua erklärt. Ihre Verwerfung der modernen Autoren, das be-
wußte Zurückgehen auf die „Alten“, d. h. auf die Scholastik des
13. Jahrhunderts, ist zwar unleugbar nicht dasselbe wie die
Wiederentdeckung der Schönheit antiker Poesie, Geschichtschrei-
bung und Philosophie, die Erneuerung altrömischer und platoni-
scher Weisheit, die den Humanisten am Herzen lag, aber es ist
doch gewissermaßen der Anfang dazu; auf dem Wege über die
Erneuerung der Kirchenväter, des „reinen“ Aristoteles und der
reinen Lehre Christi ließ sich wohl auch zur Antike überhaupt
gelangen. Das klingt freilich ein wenig vage, zumal die Quellen-
1 H. fühlt selbst die Gewagtheit seiner These und hat es deshalb an
nachträglichen Einschränkungen nicht fehlen lassen: „Selbstverständlich darf
. . . der Verkehr mit Italien in keiner Weise unterschätzt werden“ (p. 14) u. ä.
öfter. Für uns bleibt aber entscheidend, daß diese italienischen Einflüsse nur
graduelle Steigerungen, nicht erzeugendes Motiv jenes Neuen, für den echten
Humanismus Charakteristischen bedeuten sollen, das H. selbst folgendermaßen
umschreibt: „Verselbständigung der Laienbildung gegenüber der Kirche und
Verselbständigung der Einzelwissenschaften gegenüber der Theologie“ (1. c.
p 13/14). 2 Theol.Fak.153. Württ.Vierteljahrsschr. f. Landesgesch. XV, 326.
Ibid. 330 scheint H. zu glauben, daß in den Lehrplänen der modernen Uni-
versitäten vor Einführung der via antiqua die naturwissenschaftlichen Schriften
des Aristoteles und die mathematischen Schriften Euklids nicht figuriert
hätten ?
Gerhard Ritter:
mitgewirkt haben sollen1, was in aller Welt gab sonst den
Anst oß ?
Die via antiqua, sagt Hermelink. Sie hat zunächst mit ihrem
Sinn für die „Realitäten“ das Studium der Mathematik, der Natur-
kunde, der Geschichte (!) wieder belebt. Zwar ist der Eifer der
Scholastiker für naturwissenschaftliche Dinge in Wien und Erfurt,
die beide rein okkamistisch waren, nachweislich größer gewesen
als in Köln, Heidelberg und Basel. Aber gerade das muß zur Be-
stätigung der These dienen: diese beiden Hochschulen dürfen
gewissermaßen als Ausnahmen gelten—sie bedurften der via antiqua
nicht mehr, da sie sich bereits selbständig, zum Teil mit Hilfe
italienischer Einflüsse, zu den res hingewandt und damit den termi-
nistischen Formalismus innerlich überwunden (!) hatten2. Inwie-
fern die via antiqua das Geschichtsstudium belebt haben soll, er-
fahren wir zwar nicht näher; vermutlich hängt aber auch das mit
dem „Realismus“ dieser Schule zusammen (?). In ähnlicher Weise
wird das stärkste und eigentliche Interesse der Humanisten:
die Bevorzugung der antiken Autoren vor den mittelalterlichen und
die Pflege eines ciceronianischen Stiles, aus den Tendenzen der via
antiqua erklärt. Ihre Verwerfung der modernen Autoren, das be-
wußte Zurückgehen auf die „Alten“, d. h. auf die Scholastik des
13. Jahrhunderts, ist zwar unleugbar nicht dasselbe wie die
Wiederentdeckung der Schönheit antiker Poesie, Geschichtschrei-
bung und Philosophie, die Erneuerung altrömischer und platoni-
scher Weisheit, die den Humanisten am Herzen lag, aber es ist
doch gewissermaßen der Anfang dazu; auf dem Wege über die
Erneuerung der Kirchenväter, des „reinen“ Aristoteles und der
reinen Lehre Christi ließ sich wohl auch zur Antike überhaupt
gelangen. Das klingt freilich ein wenig vage, zumal die Quellen-
1 H. fühlt selbst die Gewagtheit seiner These und hat es deshalb an
nachträglichen Einschränkungen nicht fehlen lassen: „Selbstverständlich darf
. . . der Verkehr mit Italien in keiner Weise unterschätzt werden“ (p. 14) u. ä.
öfter. Für uns bleibt aber entscheidend, daß diese italienischen Einflüsse nur
graduelle Steigerungen, nicht erzeugendes Motiv jenes Neuen, für den echten
Humanismus Charakteristischen bedeuten sollen, das H. selbst folgendermaßen
umschreibt: „Verselbständigung der Laienbildung gegenüber der Kirche und
Verselbständigung der Einzelwissenschaften gegenüber der Theologie“ (1. c.
p 13/14). 2 Theol.Fak.153. Württ.Vierteljahrsschr. f. Landesgesch. XV, 326.
Ibid. 330 scheint H. zu glauben, daß in den Lehrplänen der modernen Uni-
versitäten vor Einführung der via antiqua die naturwissenschaftlichen Schriften
des Aristoteles und die mathematischen Schriften Euklids nicht figuriert
hätten ?