Studien zur Spätscholastik. II.
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richtig. Wir haben die päpstlichen Erlasse von 1346 und 1366
gegen diesen Mißbrauch der Philosophie kennen gelernt (s. o.
S. 22/3), hörten aber noch 1455 den Magister Johannes Wenck, den
Begründer der via antiqua in Heidelberg, über dasselbe Übel beweg-
lich klagen und auf Abstellung drängen (s. o. S. 52 N. 4). Es mag
schon sein, daß auch die Vereinfachung der theologischen Lehr-
formen, nicht nur der philosophischen, zu den Programmpunkten
der via antiqua gehört hat1. Aber das war ein sehr altes Programm.
Die Theologie aus dem erstickenden Wust philosophischer Speku-
lationen zu befreien, hatten schon die ältesten Generalkapitel der
Dominikaner und Franziskaner vergeblich versucht, indem sie
ihren Ordensmitgliedern die philosophischen Studien überhaupt ver-
boten. In ihre eigene Ordenstheologie waren diese Spekulationen
sogleich wieder eingedrungen. Und dasselbe Übel bestand — weil
es im Wesen der mittelalterlichen Wissenschaft begründet war —
in allen Wissenschaften einschließlich der Jurisprudenz. Ist es denn
wirklich erwiesen, daß nur die „Okkamisten“ oder wenigstens diese
in besonderem Maße daran Schuld waren? Mir scheint nicht; man
muß sich nur einmal von dem Schlagwort der Realisten: Nos imus
ad res, de terminis non curamus freimachen (dessen rein erkenntnis-
theoretische Bedeutung ich glaube erwiesen zu haben), um zu
erkennen, daß positive Schuldbeweise bisher nicht vorliegen. Wohl
aber ist bekannt, daß der weitaus Bedeutendste unter den okka-
mistischen Theologen des 15. Jahrhunderts — vielleicht der größte
unter den akademischen Theologen dieses Säkulums überhaupt -
Johannes Gerson, auch der Führer seiner Generation und mancher
späteren im Kampfe gegen den sophistisch-logischen Ballast in der
theologischen Wissenschaft war. Was er fordert, entspricht ziem-
lich genau dem Reformprogramm, das Hermeline den Realisten
zuschreibt: Konzentration auf die Glaubenswahrheiten, die in den
drei letzten Büchern des Lombarden zur Sprache kommen, an Stelle
der metaphysischen Vorfragen des ersten Buches, Rückgang auf
die einfache Autorität der Bibel, Betonung der praktischen Be-
dürfnisse der Kirche auch innerhalb der Theologie, kurz: Verein-
fachung des Methodischen und Verstärkung der religiösen Motive2.
Gerade dieser Nominalist mit seinen erbaulich-gelehrten Schriften,
seiner Verbindung mystischer, okkamistischer und thomistischer
Ideen wurde das Vorbild einer ausgedehnten halbpopulären, syn-
1 Vgl. o. S. 107. 2 Vgl. Joh. Schwab, Joh. Gerson (1858), p. 291 ff.,
Seeberg D.G. III3, 627ff.
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richtig. Wir haben die päpstlichen Erlasse von 1346 und 1366
gegen diesen Mißbrauch der Philosophie kennen gelernt (s. o.
S. 22/3), hörten aber noch 1455 den Magister Johannes Wenck, den
Begründer der via antiqua in Heidelberg, über dasselbe Übel beweg-
lich klagen und auf Abstellung drängen (s. o. S. 52 N. 4). Es mag
schon sein, daß auch die Vereinfachung der theologischen Lehr-
formen, nicht nur der philosophischen, zu den Programmpunkten
der via antiqua gehört hat1. Aber das war ein sehr altes Programm.
Die Theologie aus dem erstickenden Wust philosophischer Speku-
lationen zu befreien, hatten schon die ältesten Generalkapitel der
Dominikaner und Franziskaner vergeblich versucht, indem sie
ihren Ordensmitgliedern die philosophischen Studien überhaupt ver-
boten. In ihre eigene Ordenstheologie waren diese Spekulationen
sogleich wieder eingedrungen. Und dasselbe Übel bestand — weil
es im Wesen der mittelalterlichen Wissenschaft begründet war —
in allen Wissenschaften einschließlich der Jurisprudenz. Ist es denn
wirklich erwiesen, daß nur die „Okkamisten“ oder wenigstens diese
in besonderem Maße daran Schuld waren? Mir scheint nicht; man
muß sich nur einmal von dem Schlagwort der Realisten: Nos imus
ad res, de terminis non curamus freimachen (dessen rein erkenntnis-
theoretische Bedeutung ich glaube erwiesen zu haben), um zu
erkennen, daß positive Schuldbeweise bisher nicht vorliegen. Wohl
aber ist bekannt, daß der weitaus Bedeutendste unter den okka-
mistischen Theologen des 15. Jahrhunderts — vielleicht der größte
unter den akademischen Theologen dieses Säkulums überhaupt -
Johannes Gerson, auch der Führer seiner Generation und mancher
späteren im Kampfe gegen den sophistisch-logischen Ballast in der
theologischen Wissenschaft war. Was er fordert, entspricht ziem-
lich genau dem Reformprogramm, das Hermeline den Realisten
zuschreibt: Konzentration auf die Glaubenswahrheiten, die in den
drei letzten Büchern des Lombarden zur Sprache kommen, an Stelle
der metaphysischen Vorfragen des ersten Buches, Rückgang auf
die einfache Autorität der Bibel, Betonung der praktischen Be-
dürfnisse der Kirche auch innerhalb der Theologie, kurz: Verein-
fachung des Methodischen und Verstärkung der religiösen Motive2.
Gerade dieser Nominalist mit seinen erbaulich-gelehrten Schriften,
seiner Verbindung mystischer, okkamistischer und thomistischer
Ideen wurde das Vorbild einer ausgedehnten halbpopulären, syn-
1 Vgl. o. S. 107. 2 Vgl. Joh. Schwab, Joh. Gerson (1858), p. 291 ff.,
Seeberg D.G. III3, 627ff.