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Mitteis, Heinrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 3. Abhandlung): Politische Prozesse des früheren Mittelalters in Deutschland und Frankreich — Heidelberg, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.38925#0006
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6

Heinrich Mitteis:

Außenstehende eine spezifisch politische Einstellung der mit der
Durchführung des Prozesses betrauten Staatsbehörden argwöhnisch
vermuten. Sehr oft wird es sich um eine reine politische Macht-
frage handeln, die in prozessualen Formen zum Austrag gelangt,
und so wird diesen Prozessen meist etwas Einmaliges, Atypisches
anhaften; viele von ihnen werden auch geschichtliche Bedeutung
gewinnen: man denke an den Dreyfusprozeß, den Eulenburgprozeß,
die Prozesse um die Person des ersten Reichspräsidenten.
Nicht notwendig ist der politische Prozeß heute zugleich Ver-
fassungsstreitigkeit. In manchen Fällen wird es sich um die Abwehr
oder Sühne eines Versuchs handeln, unmittelbar in bestehende
Verfassungsverhältnisse einzugreifen. In anderen wird die Ver-
fassung nur ganz mittelbar, nur Eingeweihten erkennbar, den
Anlaß zum Prozesse geben -— so könnte in dem Versuch, die
Reichsbank durch ein Zivilurteil zur Aufwertung alter Banknoten
zu zwingen, die Absicht einer Erschütterung der Währung und
fernerhin eines Umsturzes der Verfassung erblickt werden. In
einer letzten Reihe von Fällen steht die Verfassung gar nicht mehr
in Frage, so bei tätlichen oder wörtlichen Angriffen auf einzelne
Politiker. Andrerseits gibt es Verfassungsstreitigkeiten ohne jeden
politischen Charakter, die reine Rechtsfragen betreffen. Und diese
sind in weitem Umfange der ordentlichen Rechtspflege entzogen
und Staatsgerichtshöfen zugewiesen1, wo sie sich nicht in den For-
men der Prozeßordnungen, sondern von Geschäftsordnungen ab-
spielen. Endlich die Verfassungsänderung selbst: Sie ist im moder-
nen konstitutionellen Staate prinzipiell Gegenstand der Gesetz-
gebung2. Ein Prozeß mit verfassungsändernder Kraft, mit unmittel-
barer Einwirkung auf eine Neubildung der Verfassung ist heute
nicht mehr denkbar.
Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, um so mehr ver-
lieren alle diese scharfen juristischen Distinktionen an Bedeutung.
Von einer festen Abgrenzung der Verfassungsnormen gegenüber
allen andern Normen des geselligen Zusammenlebens ist keine Rede
mehr. Wenn wir das Wort „Verfassung“ überhaupt gebrauchen
wollen, so müssen wir damit die staatliche Lebensform als solche
bezeichnen, die Gesamtheit der Rechtsregeln, unter denen
sich Wirkung und Entfaltung staatlicher Macht voll-
1 Vgl. Reichsverf. Art. 19 und das Gutachten von An schütz auf dem
34. Dtsch. Juristentage, Sonderabdr. Berlin u. Leipzig 1927, S. 5ff.
2 Reichsverf. Art. 76.
 
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