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Mitteis, Heinrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 3. Abhandlung): Politische Prozesse des früheren Mittelalters in Deutschland und Frankreich — Heidelberg, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.38925#0007
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Politische Prozesse.

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zieht. Diese Lebensform ist aber stetem Wechsel unterworfen;
ständig vollziehen sich Umschichtungs- und Anpassungsprozesse,
für die wieder kausal sind die Machtkämpfe zwischen großen
sozialen Gruppen. Diese langsame, den Zeitgenossen selbst oft
verborgene Verfassungswandlung ist gerade für die Epoche, die wir
betrachten wollen, so außerordentlich charakteristisch. Daher be-
ginnen sich auch erst in neuester Zeit langsam die Schleier zu
heben, die das Verfassungsleben des Frühmittelalters dem Auge
des Rechtshistorikers lange verborgen haben. Eine strenge Beob-
achtung vielfältig deutbarer Indizien rundet sich allmählich zu
einem Gesamtbild, das die innere Dynamik des Verfassungslebens
jener an eigentlichen Rechtsquellen armen Zeit in ungeahntem
Reichtum erstehen läßt. Zu diesen Indizien gehören nun aber in
erster Linie die großen Prozesse vor den obersten Gerichten. In
ihnen spiegelt sich der Gang der Auseinandersetzung wieder, deren
Verlauf für die heutige staatliche Bildung Deutschlands und Frank-
reichs richtunggebend geworden ist: Der Existenzkampf der Zentral-
gewalt gegen die im Stammesgedanken wurzelnde Feudalaristo-
kratie bewegt sich durchaus in den Formen solcher Prozesse, in
ihnen gelangen die vitalsten Interessengegensätze zwischen König-
tum und Fürsten zum Austrag. In Prozessen hat sich die Ent-
scheidung der Frage angebahnt, in welchem Umfange der Gedanke
der Staatseinheit sich werde verwirklichen lassen. Und das ist
weiter nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, welche große Rolle
der Drang nach sinnfälliger Plastik und Verdeutlichung alles Ge-
schehens dem gerichtlichen Urteil zuweisen mußte, sodaß es gerade-
zu als Form des Staatsaktes schlechthin erscheinen konnte; sah
man doch in ihm nicht nur die Regelung eines einzelnen Streit-
falles inter partes, sondern zugleich die Aufstellung von Normen
für die Zukunft, war doch die Grenze zwischen Richterspruch und
Gesetz flüssiger als heute. So ersetzten diese Prozesse dem Reich
zum Teil die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Verfassungsrechtes,
und gerade um deswillen können wir sie politische nennen. Poli-
tische Prozesse sind also im Mittelalter solche, die unmittel-
bar auf die Fortentwicklung der Verfassung eingewirkt
haben.
Ob dieser großen, weit über den Einzelfall hinausreichenden
Tragweite haben diese Prozesse schon lange die Aufmerksamkeit
der Historiker auf sich gezogen. Waren sie doch von unschätz-
barem Werte für die historische Forschung. Hier findet sich meist
 
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