Heinrich Mitteis:
reiches urkundliches Material, hier finden sich datierbare Urteils-
sprüche, berechenbare Fristen und Termine; und so sind diese
Prozesse vielfach, wie trigonometrische Signale, Orientierungs-
punkte in dem unübersichtlichen Gelände historiographischer Über-
lieferung. Ferner: In diesen Prozessen treten die handelnden Per-
sonen oft in ein besonders scharfes Licht; ihre Motive, ihre Leiden-
schaften werden gleichsam transparent. Und noch mehr: Diese
Prozesse geben den Anlaß zu höchst prinzipiellen Erörterungen
über Geist und Charakter des mittelalterlichen Staats- und Rechts-
bewußtseins. Wie steht es denn, so fragt man unwillkürlich, mit
dem ewigen Prozeß des Staates gegen das Recht, des Rechtes gegen
die Politik ? Wie hat sich denn die Rechtsordnung bewährt in
jenen Stunden der Entscheidung, inwiefern ist es gelungen, das
Chaos politischer Leidenschaften durch die kosmische Ordnung
normativer Rechtsgedanken zu bändigen ? Und wenn schon die
Gegenwart Anlaß nimmt zu oft maßloser Kritik an unserer Justiz
— wie nahe liegt doch die Versuchung, in früheren Epochen Willkür
zu vermuten, wo das Recht herrschen sollte, den Vorwurf der
Rechtsbeugung zu erheben, wo Widersprüche der Überlieferung
unlösbar scheinen.
Die Rechtshistoriker haben sich hierzu noch nicht prinzipiell
geäußert. Es fehlt noch an einem Versuche, der theoretischen Dar-
stellung der Prozeßrechtsgeschichte an Hand der eigentlichen
Rechtsquellen eine Schilderung der lebenden Prozeßpraxis, ge-
wonnen aus historischen Prozeßverläufen, entgegenzusetzen, Rechts-
tatsachenforschung auch auf diesem Gebiete zu treiben. Und doch
ist das eben angedeutete Problem ein eminent juristisches. Der
Rechtshistoriker ist verantwortlich dafür, daß seiner Generation
ein unverfälschtes Bild von Rechtspflege und Rechtsempfinden
früherer Zeiten gezeichnet werde. Er wird sich ebensowenig dabei
beruhigen wollen, daß früher alles auf dem bloßen Machtgedanken
beruht habe, wie etwa der Rechtsphilosoph unsrer Tage die „nor-
mative Kraft des Faktischen“ als ausreichende Erklärung für die
rechtsschöpfende Kraft tatsächlicher Ereignisse wird gelten lassen
wollen. Aber dieses Unwerturteil über die Staatspraxis unsrer Vor-
fahren würde auch allem widersprechen, was wir über die Hoch-
schätzung des Gerechtigkeitsideales im Mittelalter wissen1. Wir
1 Zum folgenden die ausgezeichnete Arbeit von F. Kern, Recht und
Verfassung im MA. (Hist. Ztschr. 120 [1919], S. 1 ff., insbes. S. 45ff.).
reiches urkundliches Material, hier finden sich datierbare Urteils-
sprüche, berechenbare Fristen und Termine; und so sind diese
Prozesse vielfach, wie trigonometrische Signale, Orientierungs-
punkte in dem unübersichtlichen Gelände historiographischer Über-
lieferung. Ferner: In diesen Prozessen treten die handelnden Per-
sonen oft in ein besonders scharfes Licht; ihre Motive, ihre Leiden-
schaften werden gleichsam transparent. Und noch mehr: Diese
Prozesse geben den Anlaß zu höchst prinzipiellen Erörterungen
über Geist und Charakter des mittelalterlichen Staats- und Rechts-
bewußtseins. Wie steht es denn, so fragt man unwillkürlich, mit
dem ewigen Prozeß des Staates gegen das Recht, des Rechtes gegen
die Politik ? Wie hat sich denn die Rechtsordnung bewährt in
jenen Stunden der Entscheidung, inwiefern ist es gelungen, das
Chaos politischer Leidenschaften durch die kosmische Ordnung
normativer Rechtsgedanken zu bändigen ? Und wenn schon die
Gegenwart Anlaß nimmt zu oft maßloser Kritik an unserer Justiz
— wie nahe liegt doch die Versuchung, in früheren Epochen Willkür
zu vermuten, wo das Recht herrschen sollte, den Vorwurf der
Rechtsbeugung zu erheben, wo Widersprüche der Überlieferung
unlösbar scheinen.
Die Rechtshistoriker haben sich hierzu noch nicht prinzipiell
geäußert. Es fehlt noch an einem Versuche, der theoretischen Dar-
stellung der Prozeßrechtsgeschichte an Hand der eigentlichen
Rechtsquellen eine Schilderung der lebenden Prozeßpraxis, ge-
wonnen aus historischen Prozeßverläufen, entgegenzusetzen, Rechts-
tatsachenforschung auch auf diesem Gebiete zu treiben. Und doch
ist das eben angedeutete Problem ein eminent juristisches. Der
Rechtshistoriker ist verantwortlich dafür, daß seiner Generation
ein unverfälschtes Bild von Rechtspflege und Rechtsempfinden
früherer Zeiten gezeichnet werde. Er wird sich ebensowenig dabei
beruhigen wollen, daß früher alles auf dem bloßen Machtgedanken
beruht habe, wie etwa der Rechtsphilosoph unsrer Tage die „nor-
mative Kraft des Faktischen“ als ausreichende Erklärung für die
rechtsschöpfende Kraft tatsächlicher Ereignisse wird gelten lassen
wollen. Aber dieses Unwerturteil über die Staatspraxis unsrer Vor-
fahren würde auch allem widersprechen, was wir über die Hoch-
schätzung des Gerechtigkeitsideales im Mittelalter wissen1. Wir
1 Zum folgenden die ausgezeichnete Arbeit von F. Kern, Recht und
Verfassung im MA. (Hist. Ztschr. 120 [1919], S. 1 ff., insbes. S. 45ff.).