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Gerhard Ritter:
digno verdienen, vermeidet er überhaupt eine eigene Stellung-
nahme und versteckt sich hinter Thomas; die (von einzelnen
moderni behauptete) Möglichkeit, die Gnade aus eigener Kraft zu
verdienen, leugnet er radikal auch für die gratia gratis data; und
was er über die Möglichkeit guter Werke der Menschen sine speciali
dei adiutorio sagt, sucht offensichtlich zu vermitteln: er hält sich
an die älteren Formeln der Hochscholastik und vermeidet die pessi-
mistische Auffassung der Neuaugustinianer; andere, Sätze (so der
unter A 4 zuletzt mitgeteilte) erinnern deutlich an das ,,/ncere quod
in se estu der Okkamisten. Im ganzen erhebt sich die Auffassung
des Gnadenvorgangs nicht im geringsten über das Niveau jener
ganz äußerlichen Kooperanz von menschlicher Willensfreiheit und
adiutorium dei, wie die vulgäre spätokkamistische Tradition sie
lehrte.
3. Die Stockholmer Sammelhandschrift.
Dieses Bild des typischen, im breiten Strome des Schul-
okkamismus schwimmenden Vertreters der Spätscholastik ließe sich
aus den Stücken der Stockholmer Handschrift noch um viele Einzel-
ziige bereichern. Stärker indessen interessiert uns, was sich darin
an oppositioneller Kritik am dogmatischen Herkommen findet.
Sämtliche Stücke gehören zu der in Deutschland damals bereits
stark entwickelten populärtheologischen Schriftstellerei, die unver-
gleichlich mehr als die eigentliche rein gelehrt-scholastische Arbeit
das Interesse der deutschen Schultheologen gefangen nahm. Wir
sehen einen praktischen Seelsorger vor uns, der mit lebhaftem Eifer
alle möglichen religiösen und kirchenrechtlichen Fragen, wie sie
ihm sein Beruf täglich vor Augen stellt, ergreift und literarisch
behandelt. Da wird ein Karthäusermönch beraten, der sich mit
Skrupeln über gewisse Konsequenzen seines Keuschheitsgelübdes
quält (B 2), ein Ehemann über seine Pflichten gegenüber seiner
Frau belehrt, die ehemals Keuschheit gelobt, trotzdem sich aber
verheiratet hat (B 4). Ein Sermon richtet sich gegen die Einführung
eines neuen kirchlichen Marienfestes (B 6)1, ein größerer Traktat
nimmt Partei in einer der meisterörterten theologischen Streit-
fragen der Zeit: er sucht Beweise zusammen für die unbefleckte
Empfängnis Mariä, gestützt auf einen Kanon der Baseler Reform-
1 Wesels Autorschaft scheint mir nicht nur durch die Stellung des
Stückes mitten zwischen Weselschen Schriften, sondern vor allem durch die
enge Verwandtschaft des Inhalts mit den andern Stücken gesichert zu sein.
Gerhard Ritter:
digno verdienen, vermeidet er überhaupt eine eigene Stellung-
nahme und versteckt sich hinter Thomas; die (von einzelnen
moderni behauptete) Möglichkeit, die Gnade aus eigener Kraft zu
verdienen, leugnet er radikal auch für die gratia gratis data; und
was er über die Möglichkeit guter Werke der Menschen sine speciali
dei adiutorio sagt, sucht offensichtlich zu vermitteln: er hält sich
an die älteren Formeln der Hochscholastik und vermeidet die pessi-
mistische Auffassung der Neuaugustinianer; andere, Sätze (so der
unter A 4 zuletzt mitgeteilte) erinnern deutlich an das ,,/ncere quod
in se estu der Okkamisten. Im ganzen erhebt sich die Auffassung
des Gnadenvorgangs nicht im geringsten über das Niveau jener
ganz äußerlichen Kooperanz von menschlicher Willensfreiheit und
adiutorium dei, wie die vulgäre spätokkamistische Tradition sie
lehrte.
3. Die Stockholmer Sammelhandschrift.
Dieses Bild des typischen, im breiten Strome des Schul-
okkamismus schwimmenden Vertreters der Spätscholastik ließe sich
aus den Stücken der Stockholmer Handschrift noch um viele Einzel-
ziige bereichern. Stärker indessen interessiert uns, was sich darin
an oppositioneller Kritik am dogmatischen Herkommen findet.
Sämtliche Stücke gehören zu der in Deutschland damals bereits
stark entwickelten populärtheologischen Schriftstellerei, die unver-
gleichlich mehr als die eigentliche rein gelehrt-scholastische Arbeit
das Interesse der deutschen Schultheologen gefangen nahm. Wir
sehen einen praktischen Seelsorger vor uns, der mit lebhaftem Eifer
alle möglichen religiösen und kirchenrechtlichen Fragen, wie sie
ihm sein Beruf täglich vor Augen stellt, ergreift und literarisch
behandelt. Da wird ein Karthäusermönch beraten, der sich mit
Skrupeln über gewisse Konsequenzen seines Keuschheitsgelübdes
quält (B 2), ein Ehemann über seine Pflichten gegenüber seiner
Frau belehrt, die ehemals Keuschheit gelobt, trotzdem sich aber
verheiratet hat (B 4). Ein Sermon richtet sich gegen die Einführung
eines neuen kirchlichen Marienfestes (B 6)1, ein größerer Traktat
nimmt Partei in einer der meisterörterten theologischen Streit-
fragen der Zeit: er sucht Beweise zusammen für die unbefleckte
Empfängnis Mariä, gestützt auf einen Kanon der Baseler Reform-
1 Wesels Autorschaft scheint mir nicht nur durch die Stellung des
Stückes mitten zwischen Weselschen Schriften, sondern vor allem durch die
enge Verwandtschaft des Inhalts mit den andern Stücken gesichert zu sein.