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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 5. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 3: Neue Quellenstücke zur Theologie des Johann von Wesel — Heidelberg, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.38927#0036
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Gerhard Ritter:

quoniam1 quicquid datum sit papae et praelatis, id domi habeas quan-
tum attinet ad dona spiritus ad veram beatitudinem. Der Schwung
des Gedankens reißt den Verfasser fort zu einem Gebet, dessen
Ziel die innigste Vereinigung mit Gott ist. Mit Gott eins werden,
das heißt erlöst sein vom Druck des Gesetzes und von der Un-
gerechtigkeit irdischer Gewalten.
Ohne Frage erhebt sich dieser zweite Teil des Traktates ganz
wesentlich über das geistige Niveau des ersten: hier wird der Stoß
nicht mehr bloß gegen die Außenwerke des hierarchischen Gebäudes
gerichtet; hier wird — auf den Bahnen der Mystiker — ins reli-
giöse Zentrum des kirchlichen Lebens vorgestoßen: der Druck und
Zwang der potestas ecclesiastica wird überwunden, weil der wahre
Gläubige, mit Gott unmittelbar in Verbindung getreten, sich über
sie innerlich zu erheben vermag. Mit Johann von Wesel hat dieser
zweite Teil vollends gar nichts mehr zu tun. Um so näher liegt jetzt
die Vermutung, daß sein Erscheinen (um 1522) in Zwolle, ungefähr
gleichzeitig mit den ersten Drucken Wesselscher und Gochscher
Schriften und in derselben Druckerwerkstatt, mehr als einen bloßen
Zufall bedeutet: daß der (uns unbekannte) Verfasser von Wessel-
schen Ideen nicht unberührt geblieben, vielleicht sogar aus seinem
Freundeskreise hervorgegangen ist.
Das Merkwürdigste an unserer Flugschrift ist aber ihr dritter
und letzter Teil (S. 154—162). Er handelt von dem Gehorsam,
den man weltlicher Obrigkeit schuldig ist — wiedeimm ohne streng
logischen Zusammenhang mit dem Vorhergehenden, im Grunde ein
ganz neues Thema aufgreifend. Es ist unmöglich, bei der Lektüre
nicht an die Gedankengänge der lutherischen Schrift von weltlicher
Obrigkeit fortwährend sich zu erinnern: Wie der Anonymus auf
scharfer Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt besteht:
diese regiert nur den Leib, jene tantum circa Ministerium verbi et
charitatis occupatur (S. 154); wie er dann das kleine Häuflein der
wahren Gläubigen schildert inmitten einer Welt, die weltliches
Regiment nicht entbehren kann, weil die echten Christen nur einen
Teil von ihr ausmachen; wie er den Gläubigen empfiehlt, der
Obrigkeit zu gehorchen in allen Dingen, um der Liebe willen, sofern
ihr Gebot nicht unzweifelhaft dem Wort und Willen Gottes wider-
streitet — auch dann, wenn es gilt Schmach und Unrecht und Ver-
folgung zu leiden: nicht der bösen Obrigkeit zu Ehren, sondern um
Gottes willen, der uns zu gehorchen befohlen hat. Sie sind Gottes-

1 Text: quin.
 
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