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Ernst Lohmeyer:
So hat sich denn für die erste Strophe des Liedes ein klarer
Sinn ergeben. Ihre Worte sind noch ganz unbestimmt und gleich-
sam durchdrungen von der Scheu, die ein göttliches Geheimnis
fordert. Es müssen Andeutungen genügen, und erst am Ende des
Gedichtes, das die Vollendung des Ganges durch die Geschichte
zu der ewigen Herrlichkeit des Kyrios bedeutet, kann von dem
Wesen und der Bedeutung dieser Gestalt und ihrer Taten offen
gesprochen werden. Dem entsprechen wie in reiner Abbildung die
äußeren Maße des Gedichtes. Eine Strophe schildert die These;
es ist das anfängliche Sein der göttlichen Gestalt. Zwei Strophen
setzen die Antithese; es ist das geschichtliche Dasein in mensch-
licher Niedrigkeit. Drei Strophen bekennen die Synthese; es ist
die Offenbarung des Kyrios, dem das All sich beugt.
Für diesen ganzen Zusammenhang gibt es in dem messianischen
Anhang des Midrasch Pesiqta Rabbathi, einem der tiefsten und
schönsten Dokumente talmudischer Frömmigkeit, ein wertvolles,
wenn auch spätes Zeugnis. Auch hier sind drei Zeiten und Zonen
im Dasein des Messias gesetzt; auch hier führt der Weg aus prä-
existenter Art zum geschichtlichen Dasein voller Leid und Schmer-
zen und durch dieses hindurch zur offenbaren Herrlichkeit eines
Weltenkönigs und Herrschers; und am Anfang dieses Weges steht
ein Doppeltes, eine Begegnung zwischen Teufel und Messias und
danach das Motiv, daß dieser Messias aus freiem Entschluß den Weg-
der Schmerzen erwählt. So vermag diese Stelle in ihrer wunder-
samen Eigentümlichkeit doch die Voraussetzungen zu bestätigen,
auf die die erste Strophe des Psalmes sich gründet; es heißt dort1:
,,Da sprach der Satan vor Gott: Herr der Welt, für wen ist das
Licht, das unter dem Thron deiner Herrlichkeit verborgen ist ?
Er sprach zu ihm: Für den, der dich dereinst zuschanden machen
wird mit Schimpf des Angesichtes. Er sprach zu ihm: Herr der
Welt, laß ihn mich sehen! Und er sprach: Komm und sieh ihn.
Und da er ihn sah, zitterte er und fiel auf sein Angesicht und sprach:
Dieses ist der Messias, der mich stürzen wird und alle meine Fürsten
1 36 (f. 161 a) bei Strack-Billerbeck II 287f. zu Luk. 24, 26; II 347ff.
zu Job. 1, 1. Das Kapitel stammt etwa aus dem Anfang des 10. Jahrhunderts.
Voraus geht die Frage nach dem Licht (Ps. 36, 10), auf das die Gemeinde
schaut. Es wird unter Verweis auf Gen. 1, 4 als das Licht des Messias bestimmt:
„Das lehrt, daß Gott auf den Messias und seine Taten ausgeschaut hat, bevor
die Welt erschaffen wurde, und er verbarg das Licht für seinen Messias und
dessen Geschlecht unter dem Thron seiner Herrlichkeit.“
Ernst Lohmeyer:
So hat sich denn für die erste Strophe des Liedes ein klarer
Sinn ergeben. Ihre Worte sind noch ganz unbestimmt und gleich-
sam durchdrungen von der Scheu, die ein göttliches Geheimnis
fordert. Es müssen Andeutungen genügen, und erst am Ende des
Gedichtes, das die Vollendung des Ganges durch die Geschichte
zu der ewigen Herrlichkeit des Kyrios bedeutet, kann von dem
Wesen und der Bedeutung dieser Gestalt und ihrer Taten offen
gesprochen werden. Dem entsprechen wie in reiner Abbildung die
äußeren Maße des Gedichtes. Eine Strophe schildert die These;
es ist das anfängliche Sein der göttlichen Gestalt. Zwei Strophen
setzen die Antithese; es ist das geschichtliche Dasein in mensch-
licher Niedrigkeit. Drei Strophen bekennen die Synthese; es ist
die Offenbarung des Kyrios, dem das All sich beugt.
Für diesen ganzen Zusammenhang gibt es in dem messianischen
Anhang des Midrasch Pesiqta Rabbathi, einem der tiefsten und
schönsten Dokumente talmudischer Frömmigkeit, ein wertvolles,
wenn auch spätes Zeugnis. Auch hier sind drei Zeiten und Zonen
im Dasein des Messias gesetzt; auch hier führt der Weg aus prä-
existenter Art zum geschichtlichen Dasein voller Leid und Schmer-
zen und durch dieses hindurch zur offenbaren Herrlichkeit eines
Weltenkönigs und Herrschers; und am Anfang dieses Weges steht
ein Doppeltes, eine Begegnung zwischen Teufel und Messias und
danach das Motiv, daß dieser Messias aus freiem Entschluß den Weg-
der Schmerzen erwählt. So vermag diese Stelle in ihrer wunder-
samen Eigentümlichkeit doch die Voraussetzungen zu bestätigen,
auf die die erste Strophe des Psalmes sich gründet; es heißt dort1:
,,Da sprach der Satan vor Gott: Herr der Welt, für wen ist das
Licht, das unter dem Thron deiner Herrlichkeit verborgen ist ?
Er sprach zu ihm: Für den, der dich dereinst zuschanden machen
wird mit Schimpf des Angesichtes. Er sprach zu ihm: Herr der
Welt, laß ihn mich sehen! Und er sprach: Komm und sieh ihn.
Und da er ihn sah, zitterte er und fiel auf sein Angesicht und sprach:
Dieses ist der Messias, der mich stürzen wird und alle meine Fürsten
1 36 (f. 161 a) bei Strack-Billerbeck II 287f. zu Luk. 24, 26; II 347ff.
zu Job. 1, 1. Das Kapitel stammt etwa aus dem Anfang des 10. Jahrhunderts.
Voraus geht die Frage nach dem Licht (Ps. 36, 10), auf das die Gemeinde
schaut. Es wird unter Verweis auf Gen. 1, 4 als das Licht des Messias bestimmt:
„Das lehrt, daß Gott auf den Messias und seine Taten ausgeschaut hat, bevor
die Welt erschaffen wurde, und er verbarg das Licht für seinen Messias und
dessen Geschlecht unter dem Thron seiner Herrlichkeit.“