46
R. H. Goldschmidt:
einen deutlichen Begriff vom Reitze; ein Wort dessen Bedeutung
sonst sehr schwankend zu seyn pflegt. Man sagt selten eine reitzende
Blume, ein reitzendes Gebäude, aber wohl eine reitzende Geberde,
reitzende Gestus, reitzende Mienen, eine reitzende Wendung usw.
In allen diesen Fällen findet die Linie der Schönheit statt, nicht
wie sie auf einmal im Raume da stehet; sondern wie sie nach und
nach durch die Bewegung gezeichnet wird. Die Maler drucken den
Reitz durch eine flammigte Linie aus, mit welcher unsere Ein-
bildungskraft allezeit den Begriff von einer Bewegung verbindet.
,,In der Bewegung, Stellung und Haltung des Körpers“, sagt ein
französischer Schriftsteller, „unterscheidet man vornehmlich diesen
Reitz, der so sehr bezaubert. Wenn die Glieder zu diesem Ge-
brauche das gehörige Maas haben, wenn sich ihrer Entwicklung
nichts widersetzet, wenn die Gelenke und Einfügungen so voll-
kommen sind, daß das Verlangen sich zu bewegen keine Hinder-
nisse findet, und die Bewegungen selbst sanft und in der lieblich-
sten Ordnung aufeinander hinweg gleiten; so entstehet in uns die
Idee, die wir durch das Wort Reitz ausdrücken,“ Diction. encycl.
Art. Grace par Mr. Watelet. Diese Beschreibung, sowie die Er-
klärung des Theokles, die mit derselben übereinkömmt, erstreckt
sich zwar eigentlich nur auf den Reitz in der Malerey und Bildhauer-
kunst; es scheinet aber auch in den übrigen Künsten etwas zu
hegen, das sich auf einen ähnlichen Begriff zurückführen läßt.)
Könnte man also nicht eine Vermischung von melodischen Farben
in eine von diesen Linien dahin wallen lassen ? Könnte man nicht,
um dem Auge desto mehr zu gefallen, verschiedene Arten von
wellenförmigen und flammigten Linien miteinander verbinden ?«
(vgl. 12.)
»Vielleicht könnte diese Erfindung auch Anlaß geben, die Nach-
ahmungen der menschlichen Leidenschaften in einer Farbenmelodie
auszudrücken. Eine jede Leidenschaft ist so wohl mit gewissen
Tönen, als mit gewissen Bewegungen der Gliedmaßen verknüpft.
Jene werden in der Musik durch ähnliche Töne ausgedrückt, diese
aber könnten vielleicht durch die Bewegungen der Farben nach-
geahmt werden. Eine plötzlich unterbrochene Linie könnte einiger-
maßen den Schrecken, und viele schnell durcheinander fahrende
Linien den Zorn, so wie eine langsam ungekünstelt fortgehende
Wellenlinie eine Art von Tiefsinn abbilden.« (vgl. 9.).
»Man könnte wider die Erfindung einer Farbenmelodie über-
haupt, und vornemlich wider die Vereinigung derselben mit einer
R. H. Goldschmidt:
einen deutlichen Begriff vom Reitze; ein Wort dessen Bedeutung
sonst sehr schwankend zu seyn pflegt. Man sagt selten eine reitzende
Blume, ein reitzendes Gebäude, aber wohl eine reitzende Geberde,
reitzende Gestus, reitzende Mienen, eine reitzende Wendung usw.
In allen diesen Fällen findet die Linie der Schönheit statt, nicht
wie sie auf einmal im Raume da stehet; sondern wie sie nach und
nach durch die Bewegung gezeichnet wird. Die Maler drucken den
Reitz durch eine flammigte Linie aus, mit welcher unsere Ein-
bildungskraft allezeit den Begriff von einer Bewegung verbindet.
,,In der Bewegung, Stellung und Haltung des Körpers“, sagt ein
französischer Schriftsteller, „unterscheidet man vornehmlich diesen
Reitz, der so sehr bezaubert. Wenn die Glieder zu diesem Ge-
brauche das gehörige Maas haben, wenn sich ihrer Entwicklung
nichts widersetzet, wenn die Gelenke und Einfügungen so voll-
kommen sind, daß das Verlangen sich zu bewegen keine Hinder-
nisse findet, und die Bewegungen selbst sanft und in der lieblich-
sten Ordnung aufeinander hinweg gleiten; so entstehet in uns die
Idee, die wir durch das Wort Reitz ausdrücken,“ Diction. encycl.
Art. Grace par Mr. Watelet. Diese Beschreibung, sowie die Er-
klärung des Theokles, die mit derselben übereinkömmt, erstreckt
sich zwar eigentlich nur auf den Reitz in der Malerey und Bildhauer-
kunst; es scheinet aber auch in den übrigen Künsten etwas zu
hegen, das sich auf einen ähnlichen Begriff zurückführen läßt.)
Könnte man also nicht eine Vermischung von melodischen Farben
in eine von diesen Linien dahin wallen lassen ? Könnte man nicht,
um dem Auge desto mehr zu gefallen, verschiedene Arten von
wellenförmigen und flammigten Linien miteinander verbinden ?«
(vgl. 12.)
»Vielleicht könnte diese Erfindung auch Anlaß geben, die Nach-
ahmungen der menschlichen Leidenschaften in einer Farbenmelodie
auszudrücken. Eine jede Leidenschaft ist so wohl mit gewissen
Tönen, als mit gewissen Bewegungen der Gliedmaßen verknüpft.
Jene werden in der Musik durch ähnliche Töne ausgedrückt, diese
aber könnten vielleicht durch die Bewegungen der Farben nach-
geahmt werden. Eine plötzlich unterbrochene Linie könnte einiger-
maßen den Schrecken, und viele schnell durcheinander fahrende
Linien den Zorn, so wie eine langsam ungekünstelt fortgehende
Wellenlinie eine Art von Tiefsinn abbilden.« (vgl. 9.).
»Man könnte wider die Erfindung einer Farbenmelodie über-
haupt, und vornemlich wider die Vereinigung derselben mit einer