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E. HOFFMANN und R. Klibansky.
logisch bleibt der Sinn des Lehrstückes derselbe: im Absoluten ist
der Satz vom Widerspruche aufgehoben. Hierin ist Cusanus
Herakliteer.
Cusanus ist zweitens Eleat und zwar wie Parmenides ein dem
Pythagoreismus zugetaner. ,,Gott ist, weil sein Nichtsein zu
denken unmöglich ist. Er ist die Wahrheit, von der nicht ge-
dacht werden kann, daß sie nicht ist.“ So heißt es in unserer
Predigt. Und weiter: „Nichts kann außerhalb seiner sein; denn
wie ließe sich ein Sein außerhalb seiner denken ?* ii Dies ist, grund-
sätzlich betrachtet und in der Fassung bis in den Wortlaut über-
einstimmend, die parmenideische Dialektik όπως εστιν τε καί ώς
ούκ εστι μή είναι. . . ού γάρ φατόν ούδέ νοητόν εστιν, δπως ούκ εστι. . .
ούδέν γάρ έστιν ή εσται άλλο πάρεξ του Ιόντος (18 Β. 4 und 8).
Diese eleatische Position wirkt sich nun bei Cusanus nicht nur
dahin aus, daß er es billigt, wenn „illi, qui actualissimam Deiexisten-
tiam considerarunt, Deum quasi sph aeram infinitam affirmarunt“
(D. I. I, 12), sondern vor allem dahin, daß für ihn das „Denken“
stets die Form des Urteils hat; das Urteil aber hat die Form der
Gleichung, und Gleichung ist Vergleichung (comparatio). Auf
dieser vergleichenden Grundfunktion beruht ihm das Mensurare
wie das Numerare, das Nominare wie das Cogitare. Alles rationale
Verhalten, für welches das mathematische und sprachliche Denken
symbolisch ist (symbolice, significanter), bewegt sich in dieser
komparativen Sphäre: jede Zahl gilt nur in Hinsicht auf die ganze
Zahlenreihe, jedes Wort nur in Beziehung auf alle anderen Wörter
derselben Sprache, jeder Begriff nur in Relation zu allen anderen
Teilen der begrifflichen Welt: die Sphäre des Rationalen ist die
des Relationalen, und da die Relation am eindeutigsten in der
mathematischen Gleichung zum Ausdruck kommt, so gilt in diesem
■—· und nur in diesem — Sinne der Satz: Nihil certi habemus in
nostra scientia nisi nostram mathematicam1. Hier ist die Schwelle,
über die er nun vom intuitiven Denken des Absoluten einen Schritt
abwärts steigt zum Versuch eines symbolischen Begreifens der Welt
und oft als Philosoph der mathematischen Spekulation erscheint.
1 Die Stelle muß im ganzen Zusammenhang des Dial. De Possest, S. 259,
gelesen werden: christlicher Pythagoreismus, nicht ohne Wirkung von
1. Kor. 13. Unter christlichem Pythagoreismus verstehe ich die Lehre, daß
Gott das Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben habe. Ihr
Inhalt sind Gleichungen: auf sie ist unsere 'vergleichende’ Ratio eingestellt.
E. HOFFMANN und R. Klibansky.
logisch bleibt der Sinn des Lehrstückes derselbe: im Absoluten ist
der Satz vom Widerspruche aufgehoben. Hierin ist Cusanus
Herakliteer.
Cusanus ist zweitens Eleat und zwar wie Parmenides ein dem
Pythagoreismus zugetaner. ,,Gott ist, weil sein Nichtsein zu
denken unmöglich ist. Er ist die Wahrheit, von der nicht ge-
dacht werden kann, daß sie nicht ist.“ So heißt es in unserer
Predigt. Und weiter: „Nichts kann außerhalb seiner sein; denn
wie ließe sich ein Sein außerhalb seiner denken ?* ii Dies ist, grund-
sätzlich betrachtet und in der Fassung bis in den Wortlaut über-
einstimmend, die parmenideische Dialektik όπως εστιν τε καί ώς
ούκ εστι μή είναι. . . ού γάρ φατόν ούδέ νοητόν εστιν, δπως ούκ εστι. . .
ούδέν γάρ έστιν ή εσται άλλο πάρεξ του Ιόντος (18 Β. 4 und 8).
Diese eleatische Position wirkt sich nun bei Cusanus nicht nur
dahin aus, daß er es billigt, wenn „illi, qui actualissimam Deiexisten-
tiam considerarunt, Deum quasi sph aeram infinitam affirmarunt“
(D. I. I, 12), sondern vor allem dahin, daß für ihn das „Denken“
stets die Form des Urteils hat; das Urteil aber hat die Form der
Gleichung, und Gleichung ist Vergleichung (comparatio). Auf
dieser vergleichenden Grundfunktion beruht ihm das Mensurare
wie das Numerare, das Nominare wie das Cogitare. Alles rationale
Verhalten, für welches das mathematische und sprachliche Denken
symbolisch ist (symbolice, significanter), bewegt sich in dieser
komparativen Sphäre: jede Zahl gilt nur in Hinsicht auf die ganze
Zahlenreihe, jedes Wort nur in Beziehung auf alle anderen Wörter
derselben Sprache, jeder Begriff nur in Relation zu allen anderen
Teilen der begrifflichen Welt: die Sphäre des Rationalen ist die
des Relationalen, und da die Relation am eindeutigsten in der
mathematischen Gleichung zum Ausdruck kommt, so gilt in diesem
■—· und nur in diesem — Sinne der Satz: Nihil certi habemus in
nostra scientia nisi nostram mathematicam1. Hier ist die Schwelle,
über die er nun vom intuitiven Denken des Absoluten einen Schritt
abwärts steigt zum Versuch eines symbolischen Begreifens der Welt
und oft als Philosoph der mathematischen Spekulation erscheint.
1 Die Stelle muß im ganzen Zusammenhang des Dial. De Possest, S. 259,
gelesen werden: christlicher Pythagoreismus, nicht ohne Wirkung von
1. Kor. 13. Unter christlichem Pythagoreismus verstehe ich die Lehre, daß
Gott das Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben habe. Ihr
Inhalt sind Gleichungen: auf sie ist unsere 'vergleichende’ Ratio eingestellt.