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Bürger, Gottfried August; Gundolf, Friedrich [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1929/30, 6. Abhandlung): Bürgers Lenore als Volkslied — Heidelberg, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.39959#0004
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Friedrich Gundolf:

Änderungen des nachfolgenden Flugblattes an dem Bürger-
schen Text aus dem Musenalmanach 1774 (oder der Ausgabe der
Gedichte von 1778) der ihm zugrundelag, gehen nicht auf ein
Bedürfnis nach Volkstümlichkeit zurück und erst recht nicht auf
Volksbedürfnisse in dem romantischen Sinn, sondern — sofern sie
über Druckzufälle hinausreichen oder über orthographische Ge-
wohnheiten, wie Geduld statt Gedult, spat statt spät, Haid
statt Heid, Reiter statt Reuter —- auf die Bedürfnisse des
Gesangs. 1775 erschien eine Komposition von Johann Andre
(1782 neu aufgelegt) 1776 eine von Fr. W. Weis, etwa 1790 von
Zumsteeg. Eine größere Anzahl von Abweichungen nähert sich
nicht dem vermeintlichen Volkston HERDERischen Gehörs, sondern
gerade dem moderierten Geschmack der empfindsamen Aufklärung
im mittleren oder unteren Bürgerstand. Wenn heute Angehörige
dieser Schichten poetische Anwandlungen haben, so geraten sie
nicht auf Goethes schlichte, sondern auf Schillers rhetorisch
empfindsame Tonfälle und Wendungen. Komponist und Sänger,
vielleicht auch noch der Drucker gehörten gesellschaftlich zum
selben Stand, d. h. sie waren von dem des Dichters, des Gelehrten
und Professors getrennt, weniger durch Volksnähe oder wirtschaft-
lich schlechte Lage, durch geblütliche Dumpfheit, Derbheit,
Frische, als durch Mangel an literarisch ästhetischen Kenntnissen,
und zumal Vorsätzen. Sie schrieben mehr wie ihnen der Sing-
schnabel gewachsen war, doch war ihnen dieser Schnabel schon
mindestens ebenso zu sittigen Gesellschaftstönen gewachsen wie
dem armen Skribenten Bürger. Aber sie hatten nicht wie dieser
das gebildete Verlangen nach sinnenkräftigem Ausdruck, kein
Wunschbild von naturischer Dämonie, keinen „Sturm und Drang“-
Ehrgeiz. Nur auf einige Varianten sei hier eigens hingewiesen.
Dem Drucker allein fallen vielleicht folgende absichtslos zur Last,
die sich nur in dem Flugblatt finden: 1,1: Lenora. Hier ist immer-
hin noch möglich, daß die vollere Endung dem Autor erhabener
vorkam, daß er aber nachher ermüdete sie durchzuhalten, zumal
ihn ja auch der Reim gelegentlich zur Bescheidung zwang. Druck-
fehler des flüchtigen Setzers, vielleicht aus Abwehr des Enjambe-
ments ist 3, 4: „Dem Jubelschall, den Kommenden“ statt „dem
Jubelschall der Kommenden“. 5, 1 „hin und her“ statt „hin zu
ihr“ ist reine Trägheit des Druckers, dem diese bequeme Redensart
geläufiger war als Bürgers Text und der darüber den Reim vernach-
lässigte . . der hätte einen bedachtsamen Umdichter gewitzigt.
 
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