70
Carl Brinkmann:
angelsächsische Staatslehre nennen) klar hervortritt, sondern daß
dieser Grundzug und die Erörterungen darüber der zeitgenössischen
Öffentlichkeit viel bekannter waren,- als die Zwischenzeit angenom-
men hat. In dieser hat wesentlich die kleindeutsch-preußische Auf-
fassung geherrscht, als habe es sich um eine von Österreich und dem
Deutschen Bunde zweckvoll aufgebauschte, vorübergehende „Ver-
wirrung aller sittlichen Begriffe“ aus „politischer Verstimmung“
und selbst dabei noch um den kleinen Kreis der Gießener „Un-
bedingten“ Karl Follens gehandelt; in tragischer Ironie wurden
Sand und die Seinen, die ihren Kampf im Sinne der „christlichen
Deutschheit“ (oben Anm. 58f.) nur mit Luthers Reformation ver-
glichen, als „theoretische und praktische Jesuiten“ verurteilt131.
Dementgegen beweist in meinen Augen jede unbefangene Wür-
digung der freilich sehr verwickelten Lage, daß auch diese nächtige
Seite der Jugendbewegung zum breiten Hauptstrom des deutschen
Volkswerdens gehört.
Opferwille und Glaube an die eigne nationale Sendung ver-
banden sich in ihr zu einer typischen Kampf- und Revolutions-
bereitschaft an der Grenze sittlicher und religiöser Gewißheit. Die
sicher nicht blasphemisch gemeinte Vergleichung mit dem Ur-
christentumbegegnet mit persönlichster Beziehung auf dessen Stifter
schon in Karl Follens „Großem Liede“: „Dir bist Du, Mensch,
entflohn, Ein Christus sollst Du werden132“. Im „Verfassungs-
entwurf“ der Marburger Burschenschaft, des Deutschen oder Bruder-
Bundes von 1815, findet sich der, freilich nachher durchstrichene,
Satz: „Sünde ist moralisches Unrecht, Unrecht aber solches, welches
wir willens sind zu tun, ungeachtet wir es als Unrecht kennen; das-
selbe gilt auch umgekehrt vom Guten; wir bestimmen also beides
nach der Überzeugung, daß eine Sache gut oder bös sei, abgesehen
von allen Handlungen, lediglich nach dem Willen, daher kann der
131 wie noch Wentzcke, Quellen u. Darst. 9, 151, Anm. 1 arglos wieder -
gibt. W. Mommsens Vortrag über die deutsche Einheitsbewegung (Hist. Zeit-
schrift 38 [1928], 523ff.) berührt diese Auffassungsfragen naturgemäß nur
mittelbar.
132 Haupt, Karl Folien 21.,, wo auch die Legenden über seine katholische
Erziehung zerstört werden; aber wie steht es mit freimaurerischen Einflüssen ?
War E. F. Follenius (bekanntlich latinisierten auch die Burschenschafter-
Brüder gern ihren Namen), der 1796 Schillers Geisterseher fortsetzte (Fr. J.
Schneider, Die Freimaurerei und ihr Einfluß auf die geistige Kultur in
Deutschland am Ende des 18. Jhds. [Prag 1909] 191), ein Verwandter?
Carl Brinkmann:
angelsächsische Staatslehre nennen) klar hervortritt, sondern daß
dieser Grundzug und die Erörterungen darüber der zeitgenössischen
Öffentlichkeit viel bekannter waren,- als die Zwischenzeit angenom-
men hat. In dieser hat wesentlich die kleindeutsch-preußische Auf-
fassung geherrscht, als habe es sich um eine von Österreich und dem
Deutschen Bunde zweckvoll aufgebauschte, vorübergehende „Ver-
wirrung aller sittlichen Begriffe“ aus „politischer Verstimmung“
und selbst dabei noch um den kleinen Kreis der Gießener „Un-
bedingten“ Karl Follens gehandelt; in tragischer Ironie wurden
Sand und die Seinen, die ihren Kampf im Sinne der „christlichen
Deutschheit“ (oben Anm. 58f.) nur mit Luthers Reformation ver-
glichen, als „theoretische und praktische Jesuiten“ verurteilt131.
Dementgegen beweist in meinen Augen jede unbefangene Wür-
digung der freilich sehr verwickelten Lage, daß auch diese nächtige
Seite der Jugendbewegung zum breiten Hauptstrom des deutschen
Volkswerdens gehört.
Opferwille und Glaube an die eigne nationale Sendung ver-
banden sich in ihr zu einer typischen Kampf- und Revolutions-
bereitschaft an der Grenze sittlicher und religiöser Gewißheit. Die
sicher nicht blasphemisch gemeinte Vergleichung mit dem Ur-
christentumbegegnet mit persönlichster Beziehung auf dessen Stifter
schon in Karl Follens „Großem Liede“: „Dir bist Du, Mensch,
entflohn, Ein Christus sollst Du werden132“. Im „Verfassungs-
entwurf“ der Marburger Burschenschaft, des Deutschen oder Bruder-
Bundes von 1815, findet sich der, freilich nachher durchstrichene,
Satz: „Sünde ist moralisches Unrecht, Unrecht aber solches, welches
wir willens sind zu tun, ungeachtet wir es als Unrecht kennen; das-
selbe gilt auch umgekehrt vom Guten; wir bestimmen also beides
nach der Überzeugung, daß eine Sache gut oder bös sei, abgesehen
von allen Handlungen, lediglich nach dem Willen, daher kann der
131 wie noch Wentzcke, Quellen u. Darst. 9, 151, Anm. 1 arglos wieder -
gibt. W. Mommsens Vortrag über die deutsche Einheitsbewegung (Hist. Zeit-
schrift 38 [1928], 523ff.) berührt diese Auffassungsfragen naturgemäß nur
mittelbar.
132 Haupt, Karl Folien 21.,, wo auch die Legenden über seine katholische
Erziehung zerstört werden; aber wie steht es mit freimaurerischen Einflüssen ?
War E. F. Follenius (bekanntlich latinisierten auch die Burschenschafter-
Brüder gern ihren Namen), der 1796 Schillers Geisterseher fortsetzte (Fr. J.
Schneider, Die Freimaurerei und ihr Einfluß auf die geistige Kultur in
Deutschland am Ende des 18. Jhds. [Prag 1909] 191), ein Verwandter?