42
Hermann Güntert:
Völker, die also Küstengebiete kolonisierten, haben den Ackerbau
von Kleinasien über die Mittelmeergebiete nach Westfrankreich und
von da nach dem Norden gebracht. Sie waren auch im Bergbau
erfahren, und die Steingrabstätten beweisen eine straff aristokratische
Organisation und einen besonders entwickelten Totenglauben. Es
müssen hochbegabte, wagemutige Kulturvölker und Kulturbringer
auch für den Norden gewesen sein. Ihre Seetüchtigkeit ist erstaun-
lich. Nun wird es immer deutlicher, daß in Sagen und halb-
verschollenen Überlieferungen, wie den Kämpfen vor Ilion, von der
Seeherrschaft des Minos, von den Seefahrten des Odysseus und
Aeneas, halbvergessene geschichtliche Tatsachen sagenumwoben
nachhallen. Sollte nicht auch von diesen vorhistorischen, sprach-
verwandten Seevölkern, die im Westen der alten Welt so große
Kulturtaten vollbrachten, sich eine dunkle Kunde erhalten haben?
Wir glauben, dies bejahen zu müssen und sehen in der Sage von
Atlantis solche letzten, trüben Niederschläge einst geschichtlicher
Vorgänge. Platon führt seine Berichte im Timaios und Kritias
über Solon auf ägyptische Überlieferung. Das ist nichts anderes,
als wenn Herodot (II, 50) sagt, fast alle griechischen Götternamen
seien aus Ägypten gekommen, und die übrigen stammen von den
Pelasgern. Ist sich Platon doch auch durchaus darüber klar, daß
die Griechen recht viele barbarische Wörter entlehnt hätten (Kratylos
409 DE). Jedenfalls stimmt die Schilderung des mächtigen, schloß-
artigen Poseidontempels am Meer, die Erwähnung steinerner Bauten,
kreisförmiger Kanäle mit Steinbrücken, die Angabe von Deck-
gewölben, Säulen und Bäderanlagen im Palast, wenn man offen-
kundlich Sagenhaftes abzieht, ganz zu dem Bilde, das wir uns nach
den Funden von einem solchen Megalithvolk des Westens machen
müssen.
56. Es wird schwer sein, die sagenhafte Insel, welche von den
Fluten verschlungen worden sein soll, irgendwo genau wiederzufin-
den, obwohl auch da die Erfahrung mit Ilion, Mykene und dem Laby-
rinth auf Kreta eine allzustarke Zweifelsucht beschämt haben sollte.
So lassen neuerdings die Studien Albert Herrmanns aufhorchen,
der in Nordafrika, und zwar in dem süd-tunesischen Salzsumpf
des Schott el Djerid, das Atlantisgebiet wiederfinden will. Denn
abgesehen von manchen gut stimmenden Einzelheiten in der Lage
dieser Örtlichkeit, die zugleich die Naturkatastrophe erklären könnte,
würde die Beziehung Nordafrikas zu den Iberern und Tartessosleuten,
das Hereinragen des Atlasgebirges und die besondere Verehrung
Hermann Güntert:
Völker, die also Küstengebiete kolonisierten, haben den Ackerbau
von Kleinasien über die Mittelmeergebiete nach Westfrankreich und
von da nach dem Norden gebracht. Sie waren auch im Bergbau
erfahren, und die Steingrabstätten beweisen eine straff aristokratische
Organisation und einen besonders entwickelten Totenglauben. Es
müssen hochbegabte, wagemutige Kulturvölker und Kulturbringer
auch für den Norden gewesen sein. Ihre Seetüchtigkeit ist erstaun-
lich. Nun wird es immer deutlicher, daß in Sagen und halb-
verschollenen Überlieferungen, wie den Kämpfen vor Ilion, von der
Seeherrschaft des Minos, von den Seefahrten des Odysseus und
Aeneas, halbvergessene geschichtliche Tatsachen sagenumwoben
nachhallen. Sollte nicht auch von diesen vorhistorischen, sprach-
verwandten Seevölkern, die im Westen der alten Welt so große
Kulturtaten vollbrachten, sich eine dunkle Kunde erhalten haben?
Wir glauben, dies bejahen zu müssen und sehen in der Sage von
Atlantis solche letzten, trüben Niederschläge einst geschichtlicher
Vorgänge. Platon führt seine Berichte im Timaios und Kritias
über Solon auf ägyptische Überlieferung. Das ist nichts anderes,
als wenn Herodot (II, 50) sagt, fast alle griechischen Götternamen
seien aus Ägypten gekommen, und die übrigen stammen von den
Pelasgern. Ist sich Platon doch auch durchaus darüber klar, daß
die Griechen recht viele barbarische Wörter entlehnt hätten (Kratylos
409 DE). Jedenfalls stimmt die Schilderung des mächtigen, schloß-
artigen Poseidontempels am Meer, die Erwähnung steinerner Bauten,
kreisförmiger Kanäle mit Steinbrücken, die Angabe von Deck-
gewölben, Säulen und Bäderanlagen im Palast, wenn man offen-
kundlich Sagenhaftes abzieht, ganz zu dem Bilde, das wir uns nach
den Funden von einem solchen Megalithvolk des Westens machen
müssen.
56. Es wird schwer sein, die sagenhafte Insel, welche von den
Fluten verschlungen worden sein soll, irgendwo genau wiederzufin-
den, obwohl auch da die Erfahrung mit Ilion, Mykene und dem Laby-
rinth auf Kreta eine allzustarke Zweifelsucht beschämt haben sollte.
So lassen neuerdings die Studien Albert Herrmanns aufhorchen,
der in Nordafrika, und zwar in dem süd-tunesischen Salzsumpf
des Schott el Djerid, das Atlantisgebiet wiederfinden will. Denn
abgesehen von manchen gut stimmenden Einzelheiten in der Lage
dieser Örtlichkeit, die zugleich die Naturkatastrophe erklären könnte,
würde die Beziehung Nordafrikas zu den Iberern und Tartessosleuten,
das Hereinragen des Atlasgebirges und die besondere Verehrung