Die Niobe des Aischylos
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klagen solle (8), und vermutete eine dritte Person, vielleicht die
Amme der Niobe1. Körte hält die Amme wegen der gewichtigen
Gnomen (9. 15f. 17f. 19f.) und der überlegenen Anrede: ού γάρ
έστε δύσφρονες (14) für ausgeschlossen und spricht sich, da eine
andere dritte Person schwerlich zu finden sei, wieder für Niobe aus.
Ich selber habe zunächst an Lattes Ansatz einer dritten Person ge-
zweifelt, und Körte s Mißtrauen gegen die Amme als Sprecherin
halte ich für voll berechtigt. Aber es hilft nichts, die genauere Inter-
pretation führt von verschiedenen Seiten her zwingend auf die
dritte Person als Sprecherin — wer immer es sei.
Daß die Frage überhaupt aufkommen konnte, ist lehrreich;
man spürt hier einmal praktisch, wie hmindividuell’ Aischylos seine
Gestalten sprechen läßt. Das Ethos schwingt nicht in jedem Wort,
sondern hegt mehr in den πράγματα als in der λέξις. Gerade weil dem
so ist, ist aber der Anstoß, den Latte nahm, nicht aus der Luft ge-
griffen. Spricht Niobe selbst von ihrer 'armen zerstörten Schön-
heit’, so wäre das ein unerträgliches Ausgleiten ins Sentimentale,
das zur Härte ihres Schmerzes und zur Starrheit ihrer Verzweiflung
nicht paßt, ganz abgesehen davon, daß Sentimentalität-, die viel-
fach in der Welt eine Schwester des Rationalismus ist, erst Euri-
pides in die Tragödie gebracht- hat. Im Munde einer dritten Person
dagegen spräche so das Mitleid, und durch die Stimme des Mitleids
würde das Bild von Niobes selbstzerstörerischem“ Gram kräftig
gesteigert. Dies schlägt noch nicht durch, weist aber die Richtung.
Einen zweiten Vorstoß erlaubt der Anfang des Fragments. Es
wäre wirklich seltsam, wenn Niobe hier sagte, sie habe niemand als
ihren Vater zu beklagen. Latte versucht deshalb die Absolutheit
dieser Aussage einzuschränken, indem er ζωντ’ ο]ύδέν’ ergänzt, was
auch des Raumes wegen nicht geht. Körte will ούδέν εί μή mit kon-
junktionalem Gebrauch des εί μή lesen. Aber das nächstliegende
bleibt doch der adverbiale Gebrauch2; und auch wenn Niobe sagt,
'ich kann nichts mehr tun als meinen Vater zu beklagen’, erhielte
der Vater in ihrem Gefühl den ermordeten Kindern gegenüber
immer noch eine zu ausschließliche Betonung. Das Seltsame jener
1 Man könnte im Sinne Lattes daran erinnern, daß in dem Sopho-
kleischen Niobedrama, so wenig wir von ihm wissen, wahrscheinlich eine Amme
der Kinder aufgetreten ist: Fr. adesp. Ί mit der Vermutung Valkenaers.
2 In formelhafter Kürze bei Aisch. Ag. 1138Γ. (Kassandra): τί δή με δεύρο
την τάλαιναν ήγαγες ούδέν ποτ’ εί μή ξυνθ-ανουμένην τί γάρ. Ein άλλος ist auch
bei πλήν nicht nötig: Prom. 931 f.
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klagen solle (8), und vermutete eine dritte Person, vielleicht die
Amme der Niobe1. Körte hält die Amme wegen der gewichtigen
Gnomen (9. 15f. 17f. 19f.) und der überlegenen Anrede: ού γάρ
έστε δύσφρονες (14) für ausgeschlossen und spricht sich, da eine
andere dritte Person schwerlich zu finden sei, wieder für Niobe aus.
Ich selber habe zunächst an Lattes Ansatz einer dritten Person ge-
zweifelt, und Körte s Mißtrauen gegen die Amme als Sprecherin
halte ich für voll berechtigt. Aber es hilft nichts, die genauere Inter-
pretation führt von verschiedenen Seiten her zwingend auf die
dritte Person als Sprecherin — wer immer es sei.
Daß die Frage überhaupt aufkommen konnte, ist lehrreich;
man spürt hier einmal praktisch, wie hmindividuell’ Aischylos seine
Gestalten sprechen läßt. Das Ethos schwingt nicht in jedem Wort,
sondern hegt mehr in den πράγματα als in der λέξις. Gerade weil dem
so ist, ist aber der Anstoß, den Latte nahm, nicht aus der Luft ge-
griffen. Spricht Niobe selbst von ihrer 'armen zerstörten Schön-
heit’, so wäre das ein unerträgliches Ausgleiten ins Sentimentale,
das zur Härte ihres Schmerzes und zur Starrheit ihrer Verzweiflung
nicht paßt, ganz abgesehen davon, daß Sentimentalität-, die viel-
fach in der Welt eine Schwester des Rationalismus ist, erst Euri-
pides in die Tragödie gebracht- hat. Im Munde einer dritten Person
dagegen spräche so das Mitleid, und durch die Stimme des Mitleids
würde das Bild von Niobes selbstzerstörerischem“ Gram kräftig
gesteigert. Dies schlägt noch nicht durch, weist aber die Richtung.
Einen zweiten Vorstoß erlaubt der Anfang des Fragments. Es
wäre wirklich seltsam, wenn Niobe hier sagte, sie habe niemand als
ihren Vater zu beklagen. Latte versucht deshalb die Absolutheit
dieser Aussage einzuschränken, indem er ζωντ’ ο]ύδέν’ ergänzt, was
auch des Raumes wegen nicht geht. Körte will ούδέν εί μή mit kon-
junktionalem Gebrauch des εί μή lesen. Aber das nächstliegende
bleibt doch der adverbiale Gebrauch2; und auch wenn Niobe sagt,
'ich kann nichts mehr tun als meinen Vater zu beklagen’, erhielte
der Vater in ihrem Gefühl den ermordeten Kindern gegenüber
immer noch eine zu ausschließliche Betonung. Das Seltsame jener
1 Man könnte im Sinne Lattes daran erinnern, daß in dem Sopho-
kleischen Niobedrama, so wenig wir von ihm wissen, wahrscheinlich eine Amme
der Kinder aufgetreten ist: Fr. adesp. Ί mit der Vermutung Valkenaers.
2 In formelhafter Kürze bei Aisch. Ag. 1138Γ. (Kassandra): τί δή με δεύρο
την τάλαιναν ήγαγες ούδέν ποτ’ εί μή ξυνθ-ανουμένην τί γάρ. Ein άλλος ist auch
bei πλήν nicht nötig: Prom. 931 f.