10
Wolfgang Schadewaldt
dere Brechung davon ist das αίτιάσθαι θεούς und demgegenüber das
Betonen der menschlichen Verantwortung oder Mitverantwortung,
wie W. Jaeger es für das α der Odyssee und Solon aufgezeigt hat
(SBBerl. 1926, 73 ff.). Wohl aus der späteren Tragödie stammt das
herrenlose Fragment, das Aristoteles Rhet. 1399b 22 überliefert
(Fr. adesp.82): πολλοΐς 6 δαίμων ού κατ’ εύνοιαν φρένων μεγάλα δίδο:>σι
εύτυχήματ’, άλλ’ ϊνα τάς συμφοράς λάβωσιν έπιφανεστέρας. Aischylos
hat sich Ag. 750 ganz ausdrücklich gegen den 'greisen Spruch’
gewehrt, daß έξ άγαθάς τύχας γένει βλαστάνειν άκόρεστον οίζύν: nur
das δυσσεβές εργον und ύβρις zeugen Unheil. Er erweist sich auch
hierin wie so oft als Erneuerer der religiösen Rechtsspekulation
des Solon. Wenn Aischylos im Pap. einen nicht weiter be-
gründbaren Vernichtungswillen des Gottes gelten läßt, so tut
er es wohl, weil die Sprecherin die Heldin teilweise entlasten
soll. Aber zum Wortführer des alten Volksglaubens (wie Platon
meinte, der nur die ersten beiden Verse ausschrieb) wird
Aischylos auch hier nicht. Der Gott sendet nicht das Unheil
aus heitrem Himmel, sondern 'pflanzt’ (φύει) nur den Keim der
αιτία (nicht eigentlich 'Schuld’, sondern 'Anlaß’, 'Möglichkeit zu
einer Beschuldigung’); ob sich der Mensch durch sein Glück zur
Hybris verführen läßt, bleibt Sache des Menschen. Erst die vier
Verse 15/18 also machen die Einheit des Gedankens aus. Nah ver-
wandt ist der gut aischyleische Gedanke, daß die Schuld beim Men-
schen, der Gott aber συλλήπτωρ ist: Ag. 1505ff. (Chor zu Klytai-
mestra): ώς μέν αναίτιος ει τοΰδε φόνου, τίς ό μαρτυρήσουν; . . πατρόθεν
δέ συλλήπτωρ γένοιτ’ αν άλάστωρ. Pers. 742 άλλ’ δταν σπεύδη τις αύτός,
χο'ο θεός συνάπτεται. Nur daß das 'Mitwirken des Gottes im Pap.
schon mit dem 'Anlaß-Schaffen’ einsetzt. Von dem Determinismus
des Harfnerliedes 'Ihr laßt den Armen schuldig werden’ ist
Aischylos weit entfernt.
19 άλλ’ οί μέν, was dem Sinn sehr gut entspricht, ist zweifellos zu
lang (vgl. Maas 292); das von Maas vorgeschlagene άλλ’ οί γάρ paßt
in den Raum, trifft nach meinem Gefühl aber nicht völlig die hier
geforderte Bedeutungsnuance.
20 Fraenkels σφαλέντες scheint mir dem Sinne nach besser zu
passen als Körtes φθαρέντες, vgl. Soph. Tr. 297 ταρβεΐν τον εύ
πράσσοντα μή σφαλή ποτέ. Zu έκχείν vgl. außer Pers. 826 (ολβον)
Soph. El. 129f. (πατρώαν κτήσιν).
21 κάγώ γάρ ist zu kurz, καί εγώ γάρ in scriptio plena zu lang;
Lattes χαύτη γάρ paßt genau in den Raum.
1
Ich komme zur ersten interpretatorischen Hauptfrage: wer ist
der Sprecher? Vitelli-Norsa haben sich für Niobe selbst ent-
schieden. Latte nahm Anstoß daran, daß Niobe, wie eine euripide-
ische Phaidra oder Helena, den Verlust der eigenen Schönheit be-
Wolfgang Schadewaldt
dere Brechung davon ist das αίτιάσθαι θεούς und demgegenüber das
Betonen der menschlichen Verantwortung oder Mitverantwortung,
wie W. Jaeger es für das α der Odyssee und Solon aufgezeigt hat
(SBBerl. 1926, 73 ff.). Wohl aus der späteren Tragödie stammt das
herrenlose Fragment, das Aristoteles Rhet. 1399b 22 überliefert
(Fr. adesp.82): πολλοΐς 6 δαίμων ού κατ’ εύνοιαν φρένων μεγάλα δίδο:>σι
εύτυχήματ’, άλλ’ ϊνα τάς συμφοράς λάβωσιν έπιφανεστέρας. Aischylos
hat sich Ag. 750 ganz ausdrücklich gegen den 'greisen Spruch’
gewehrt, daß έξ άγαθάς τύχας γένει βλαστάνειν άκόρεστον οίζύν: nur
das δυσσεβές εργον und ύβρις zeugen Unheil. Er erweist sich auch
hierin wie so oft als Erneuerer der religiösen Rechtsspekulation
des Solon. Wenn Aischylos im Pap. einen nicht weiter be-
gründbaren Vernichtungswillen des Gottes gelten läßt, so tut
er es wohl, weil die Sprecherin die Heldin teilweise entlasten
soll. Aber zum Wortführer des alten Volksglaubens (wie Platon
meinte, der nur die ersten beiden Verse ausschrieb) wird
Aischylos auch hier nicht. Der Gott sendet nicht das Unheil
aus heitrem Himmel, sondern 'pflanzt’ (φύει) nur den Keim der
αιτία (nicht eigentlich 'Schuld’, sondern 'Anlaß’, 'Möglichkeit zu
einer Beschuldigung’); ob sich der Mensch durch sein Glück zur
Hybris verführen läßt, bleibt Sache des Menschen. Erst die vier
Verse 15/18 also machen die Einheit des Gedankens aus. Nah ver-
wandt ist der gut aischyleische Gedanke, daß die Schuld beim Men-
schen, der Gott aber συλλήπτωρ ist: Ag. 1505ff. (Chor zu Klytai-
mestra): ώς μέν αναίτιος ει τοΰδε φόνου, τίς ό μαρτυρήσουν; . . πατρόθεν
δέ συλλήπτωρ γένοιτ’ αν άλάστωρ. Pers. 742 άλλ’ δταν σπεύδη τις αύτός,
χο'ο θεός συνάπτεται. Nur daß das 'Mitwirken des Gottes im Pap.
schon mit dem 'Anlaß-Schaffen’ einsetzt. Von dem Determinismus
des Harfnerliedes 'Ihr laßt den Armen schuldig werden’ ist
Aischylos weit entfernt.
19 άλλ’ οί μέν, was dem Sinn sehr gut entspricht, ist zweifellos zu
lang (vgl. Maas 292); das von Maas vorgeschlagene άλλ’ οί γάρ paßt
in den Raum, trifft nach meinem Gefühl aber nicht völlig die hier
geforderte Bedeutungsnuance.
20 Fraenkels σφαλέντες scheint mir dem Sinne nach besser zu
passen als Körtes φθαρέντες, vgl. Soph. Tr. 297 ταρβεΐν τον εύ
πράσσοντα μή σφαλή ποτέ. Zu έκχείν vgl. außer Pers. 826 (ολβον)
Soph. El. 129f. (πατρώαν κτήσιν).
21 κάγώ γάρ ist zu kurz, καί εγώ γάρ in scriptio plena zu lang;
Lattes χαύτη γάρ paßt genau in den Raum.
1
Ich komme zur ersten interpretatorischen Hauptfrage: wer ist
der Sprecher? Vitelli-Norsa haben sich für Niobe selbst ent-
schieden. Latte nahm Anstoß daran, daß Niobe, wie eine euripide-
ische Phaidra oder Helena, den Verlust der eigenen Schönheit be-