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Schadewaldt, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1933/34, 3. Abhandlung): Die Niobe des Aischylos — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.40168#0012
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Wolfgang Schadewaldt

Worte beruht ja darauf, daß sie im Munde der leidenden "Niobe
selbst zum gültigen Bekenntnis ihres Fühlens und ihres Schmerzes
werden, in dem doch die Kinder, nicht der Vater den ersten Platz
einnehmen1. Werden die Worte von einer dritten Person gesprochen,
so verschwindet jeder Anstoß von selbst und viel ist gewonnen.
Denn die dritte Person bekennt nichts mit jenen Worten, sondern
berichtet nur ein Faktum: Niobes Schmerz über die Kinder ist
stumm, nur dem Vater gilt ihre Klage. Ein solcher Bericht dient
gerade dem Bilde der im Schmerz um die Kinder in starrem Schwei-
gen verharrenden Niobe, wie der Dichter es nach den Andeutungen
des Aristophanes im ersten Teil seines Niobedramas hingestellt hat
und wie die Verse 5—9 es umschreiben. Der Zufall fügt es, daß wir
den Zusammenhang, den wir für den Beginn des Papyrusfragments
vermuten, in sprechender Analogie vor Augen haben. Im Prolog
der euripideischen Medea schildert die Amme den Gram ihrer Herrin
(24); Nie liegt da ohne Speise, den Leib den Schmerzen hingegehen,
ohne Unterlaß in Tränen hinschmelzend, nachdem sie den Verrat
des Jason gemerkt hat, ihr Auge nicht erhebend noch ihr Antlitz
von der Erde wendend. Sie ist für den Zuspruch der Ihren taub wie
Fels und Wogenschwall — außer daß sie einmal den weißen Hals
dreht und für sich selbst den Vater beklagt und Land und Haus,
das sie verriet, um mit dem Mann zu gehen, der sie nun verunehrt
hat’: ήν μ ή ποτέ . . αύτή προς αυτήν πατέρ’ άποι,μώξτ] φίλον καί γαΐαν
οί'κους Τ’, ο υς προδοΰσ’ άφίκετο. . . Die motivische Entsprechung ist in
dem ήν μή ποτέ = Pap-εί μή auch äußerlich faßbar. Es bleibe dahin-
gestellt, ob etwa Euripides bei der Gestaltung dieses Bildes vom
stummen Leiden seiner Medea die aischyleische Niobe vor Augen
hatte2 — sie war bekannt genug und hat die späteren Frauen-
Dramen Adelleicht stärker beeinflußt, als wir ahnen. Jedenfalls er-
laubt die Analogie des Medeaprologs die Bekonstruktion des ver-
lorenen Zusammenhanges unmittelbar bevor unser Papyrus ein-
setzt; er mag etwa gelautet haben: 'Das Unheil ist furchtbar über
sie hergebrochen. Ein Meer von Leid umgibt sie. Aber niemanden
als den Vater beklagt sie, ihn der sie in die verhängnisvolle Ehe gab3
1 άναστενάζειν und verwandte Ausdrücke werden auch gerade bei
Toten gebraucht: Aisch. Choeph. 335, Hom. II. 18, 315.
2 [Dies erwägt auch Cazzaniga a. O. 850.]
3 Daß der Vater selber Anlaß ihres Unheils ist, wird durch das Hyste-
ronproteron des δόντα vor φύσαντα unterstrichen. Das Hysteronproteron ist
auch hier wie vielfach in alter Sprache nicht blos "Figur’.
 
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