10
Arnold von Salis:
Zeit beihringen: eine zylindrische Henkelurne aus Afrati1. Das
im Museum zu Candia aus Scherben wieder zusammengesetzte
Gefäß (Abb. 3) wird ja, wie das meiste, aus der Nekropole stammen,
wenn auch über die Fundumstände nichts bekannt zu sein scheint.
Die eine Seite zeigt zwei menschliche Gestalten, beide nach links;
daneben ein großes vegetabilisches Ornament, das fast die ganze
rechte Hälfte des Bildes füllt. Voran schreitet ein Mann, anschei-
nend nackt, und ohne Attribute oder Waffen. Hinter ihm steht,
auf dunkel gemaltem Sockel, eine gewandete Frau mit vollem Haar,
dessen lose Strähnen tief auf Schultern und Rücken fallen. Der
eine, allein sichtbare Arm ist erhoben, die Hand auf den Scheitel
gelegt. Der Herausgeber möchte hier eine Kultszene erkennen
(S. 401, 542), in dem Weib eine Adorantin. Die letztere Erklärung
jedenfalls ist unzutreffend, von achtern adoriert man nicht. Es
ist klärlich der rituelle Trauergestus, der auch sonst in der kreti-
schen Kunst begegnet2. Und die Figur erinnert, in Haltung und
Tracht, an die Frau der bekannten Kriegervase aus Mykenai, die
klagend den abziehenden Spießgesellen nachschaut3. Wie dort,
bedeutet auch hier dies Bild des Jammers den Abschluß einer
Figurenreihe, denn vermutlich haben wir den Teil aus einer größe-
ren Komposition vor uns. Nur ein Ausmarsch ins Feld kommt nicht
in Frage, eher Trauerversammlung oder Leichenkondukt, in der
1 Annuario 10—12, 1927—29, 402, Abb. 518 (danach unsere Abb. 3);
Illustr. London News 179, 1931, 1042, Abb. 2.
2 Beispiele aus der Nekropole von Arkades: Deckelgriff einer tönernen
Grabvase in Gestalt einer sitzenden Frau, die beide Hände an ihr Haar legt,
Annuario a. O. 184, Abb. 205 a, b. Auch die primitiven Terrakotten S. 196
Abb. 217 a, b, mit demselben Gestus, stellen keine „Adoranten“ dar, wie es
dort heißt, sondern Klageweiber, ebenso das Fragment einer ähnlichen Figur
entwickelterer Form aus Lato, S. 455 Abb. 587. Der Typus entstammt dem
geometrischen Stil, und die drei Klagefrauen einer kretisch-geometr. Hydria
aus dem Kuppelgrab von Kavusi (AJA. 5, 1901, Taf. 4 S. 146f.; Pfuhl III 8,
Abb. 38; Annuario Abb. 644c) haben mit den Figuren der Dipylonvasen die
Gebärde gemeinsam. Das andere Bild der Hydria (AJA. a. O. Taf. 3; Annu-
ario, Abb. 644 a, b) ist wohl ebenfalls sepulkral zu deuten (Wagenrennen,
Leichenspiele). — Über den Gestus selbst (Raufen des Haares oder Schlagen
mit der flachen Hand auf Stirn und Kopf?) s. Zschietzschmann, Die Dar-
stellungen der Prothesis, AM. 53, 1928, 20, 23; sitzende Klagefrauen 19 (12).
3 Furtwaengler-Loeschcke, Mvken. Vas. Taf. 42; Winter, KiB.
90, 15. Anders, aber kaum richtig versteht das Bild Schweitzer, DLZ. 1931,
72, wenn nach ihm die Zurückbleibende „die Ausmarschierenden mit einer
großen schwungvollen Abschiedsgeste entläßt“.
Arnold von Salis:
Zeit beihringen: eine zylindrische Henkelurne aus Afrati1. Das
im Museum zu Candia aus Scherben wieder zusammengesetzte
Gefäß (Abb. 3) wird ja, wie das meiste, aus der Nekropole stammen,
wenn auch über die Fundumstände nichts bekannt zu sein scheint.
Die eine Seite zeigt zwei menschliche Gestalten, beide nach links;
daneben ein großes vegetabilisches Ornament, das fast die ganze
rechte Hälfte des Bildes füllt. Voran schreitet ein Mann, anschei-
nend nackt, und ohne Attribute oder Waffen. Hinter ihm steht,
auf dunkel gemaltem Sockel, eine gewandete Frau mit vollem Haar,
dessen lose Strähnen tief auf Schultern und Rücken fallen. Der
eine, allein sichtbare Arm ist erhoben, die Hand auf den Scheitel
gelegt. Der Herausgeber möchte hier eine Kultszene erkennen
(S. 401, 542), in dem Weib eine Adorantin. Die letztere Erklärung
jedenfalls ist unzutreffend, von achtern adoriert man nicht. Es
ist klärlich der rituelle Trauergestus, der auch sonst in der kreti-
schen Kunst begegnet2. Und die Figur erinnert, in Haltung und
Tracht, an die Frau der bekannten Kriegervase aus Mykenai, die
klagend den abziehenden Spießgesellen nachschaut3. Wie dort,
bedeutet auch hier dies Bild des Jammers den Abschluß einer
Figurenreihe, denn vermutlich haben wir den Teil aus einer größe-
ren Komposition vor uns. Nur ein Ausmarsch ins Feld kommt nicht
in Frage, eher Trauerversammlung oder Leichenkondukt, in der
1 Annuario 10—12, 1927—29, 402, Abb. 518 (danach unsere Abb. 3);
Illustr. London News 179, 1931, 1042, Abb. 2.
2 Beispiele aus der Nekropole von Arkades: Deckelgriff einer tönernen
Grabvase in Gestalt einer sitzenden Frau, die beide Hände an ihr Haar legt,
Annuario a. O. 184, Abb. 205 a, b. Auch die primitiven Terrakotten S. 196
Abb. 217 a, b, mit demselben Gestus, stellen keine „Adoranten“ dar, wie es
dort heißt, sondern Klageweiber, ebenso das Fragment einer ähnlichen Figur
entwickelterer Form aus Lato, S. 455 Abb. 587. Der Typus entstammt dem
geometrischen Stil, und die drei Klagefrauen einer kretisch-geometr. Hydria
aus dem Kuppelgrab von Kavusi (AJA. 5, 1901, Taf. 4 S. 146f.; Pfuhl III 8,
Abb. 38; Annuario Abb. 644c) haben mit den Figuren der Dipylonvasen die
Gebärde gemeinsam. Das andere Bild der Hydria (AJA. a. O. Taf. 3; Annu-
ario, Abb. 644 a, b) ist wohl ebenfalls sepulkral zu deuten (Wagenrennen,
Leichenspiele). — Über den Gestus selbst (Raufen des Haares oder Schlagen
mit der flachen Hand auf Stirn und Kopf?) s. Zschietzschmann, Die Dar-
stellungen der Prothesis, AM. 53, 1928, 20, 23; sitzende Klagefrauen 19 (12).
3 Furtwaengler-Loeschcke, Mvken. Vas. Taf. 42; Winter, KiB.
90, 15. Anders, aber kaum richtig versteht das Bild Schweitzer, DLZ. 1931,
72, wenn nach ihm die Zurückbleibende „die Ausmarschierenden mit einer
großen schwungvollen Abschiedsgeste entläßt“.