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Arnold von Salis:
Blut muß fließen, zur Befriedigung oder Versöhnung der Toten,
der Unterirdischen, warmes Blut aus Tier- oder Menschenleibern.
Der Blutgenuß, der immer neu belebt und kräftigt, ist bei all diesen
Opferriten, den sepulkralen Menschenopfern oder Kämpfen bis aufs
Messer, aber auch bei den mancherlei kultischen Begehungen, die
später an deren Stelle treten, das eigentlich ausschlaggebende Mo-
ment. Vom Zerkratzen des Gesichts bei der Totenklage bis zum Zer-
reißen des Körpers überhaupt, die ganze Stufenfolge gewaltsamer
Eingriffe in das noch pulsende Leben dient ja nur dem einen Zweck,
den heißbegehrten roten Saft hervorzubringen1. Und sollte es auch
bloß im Bilde geschehen: es hat schon seine Bedeutung, wenn Mord
und Totschlag und die Hinschlachtung von Menschen auf etruski-
schen Graburnen und -gemälden eine so unheimlich große Bolle
spielen. Je heftiger und grausamer die Prozedur sich vollzieht,
um so wirksamer das Opfer. Das Baffinierteste in dieser Hinsicht
stellt wohl das bekannte Wandgemälde der Tomba degli auguri in
Corneto dar2. Ein Tierkämpfer, nackt bis auf den Hüftenschurz,
setzt sich gegen einen ihn wütend anfallenden Hund oder wohl eher
Wolf mit der Keule zur Wehr. Aber das Gesicht ist ihm mit einem
Tuch verhüllt, und er sowohl wie das Tier sind an einer Leine fest-
gebunden und von ihr umschlungen, deren anderes Ende von einem
maskierten Gesellen in grellbuntem Kostüm .gehalten wird3. Die
Bestie zerfleischt ihrem Gegner soeben den Oberschenkel, auch sonst
blutet er bereits aus mehreren Wunden. Ein Vogel flattert aufgeregt
1 Servius, Comm. in Yerg. Aen. III 67: ,,sanguinis sancti“ id est de victimis
su/npti. ideo autem lactis et sanguinis mentio facta est, quia adfirmantur animae
lade et sanguine delectari. Varro quoque dicit mulieres in exsequiis et luctu ideo
solitas oralacerare, ut sanguine Ostenso inferis satisfaciant, quare etiam institutum
est, ut apud sepulcra et vidimae caedantur . . . Sanguis enim velut animae pos-
sessio est, unde exsangues mortui dicuntur. nam et Homerus in necromantia
non prius facit loqui animas, nisi sanguine gustato. alii lac et sanguinem ab hoc
accipiunt, quod una res nutrit, alia nutriatur. Weitere Belege bei Malten 330.
2 Monlnst. XI Taf. 35; Keck, Annlnst. 1881, 11 ff.; Weege, Etrusk.
Malerei Taf. 93, 94; von Stryk, Studien über die etr. Kammergräber 40ff.;
Poulsen, Etruscan tomb paintings llf. Abb. 4; Malten a. O. 318 Abb. 4;
Ducati, Storia delT arte etrusca I 225f., II Taf. 79, 228; Altheim, ARW. 27,
1929, 39 u. Terra mater (RGW. 22, 2, 1931) 50ff.
3 Der Name Phersu, der diesem vermummten Schergen beigeschrieben
ist, hat Anlaß zu weitausgreifenden Studien über den Ursprung des Pulcinella,
die Verwandlung eines Todesdämons in eine „Art von Aufseher oder Leiter des
grausamen Spieles“ gegeben. Siehe vor allem die Ausführungen von Ducati
und Altheim.
Arnold von Salis:
Blut muß fließen, zur Befriedigung oder Versöhnung der Toten,
der Unterirdischen, warmes Blut aus Tier- oder Menschenleibern.
Der Blutgenuß, der immer neu belebt und kräftigt, ist bei all diesen
Opferriten, den sepulkralen Menschenopfern oder Kämpfen bis aufs
Messer, aber auch bei den mancherlei kultischen Begehungen, die
später an deren Stelle treten, das eigentlich ausschlaggebende Mo-
ment. Vom Zerkratzen des Gesichts bei der Totenklage bis zum Zer-
reißen des Körpers überhaupt, die ganze Stufenfolge gewaltsamer
Eingriffe in das noch pulsende Leben dient ja nur dem einen Zweck,
den heißbegehrten roten Saft hervorzubringen1. Und sollte es auch
bloß im Bilde geschehen: es hat schon seine Bedeutung, wenn Mord
und Totschlag und die Hinschlachtung von Menschen auf etruski-
schen Graburnen und -gemälden eine so unheimlich große Bolle
spielen. Je heftiger und grausamer die Prozedur sich vollzieht,
um so wirksamer das Opfer. Das Baffinierteste in dieser Hinsicht
stellt wohl das bekannte Wandgemälde der Tomba degli auguri in
Corneto dar2. Ein Tierkämpfer, nackt bis auf den Hüftenschurz,
setzt sich gegen einen ihn wütend anfallenden Hund oder wohl eher
Wolf mit der Keule zur Wehr. Aber das Gesicht ist ihm mit einem
Tuch verhüllt, und er sowohl wie das Tier sind an einer Leine fest-
gebunden und von ihr umschlungen, deren anderes Ende von einem
maskierten Gesellen in grellbuntem Kostüm .gehalten wird3. Die
Bestie zerfleischt ihrem Gegner soeben den Oberschenkel, auch sonst
blutet er bereits aus mehreren Wunden. Ein Vogel flattert aufgeregt
1 Servius, Comm. in Yerg. Aen. III 67: ,,sanguinis sancti“ id est de victimis
su/npti. ideo autem lactis et sanguinis mentio facta est, quia adfirmantur animae
lade et sanguine delectari. Varro quoque dicit mulieres in exsequiis et luctu ideo
solitas oralacerare, ut sanguine Ostenso inferis satisfaciant, quare etiam institutum
est, ut apud sepulcra et vidimae caedantur . . . Sanguis enim velut animae pos-
sessio est, unde exsangues mortui dicuntur. nam et Homerus in necromantia
non prius facit loqui animas, nisi sanguine gustato. alii lac et sanguinem ab hoc
accipiunt, quod una res nutrit, alia nutriatur. Weitere Belege bei Malten 330.
2 Monlnst. XI Taf. 35; Keck, Annlnst. 1881, 11 ff.; Weege, Etrusk.
Malerei Taf. 93, 94; von Stryk, Studien über die etr. Kammergräber 40ff.;
Poulsen, Etruscan tomb paintings llf. Abb. 4; Malten a. O. 318 Abb. 4;
Ducati, Storia delT arte etrusca I 225f., II Taf. 79, 228; Altheim, ARW. 27,
1929, 39 u. Terra mater (RGW. 22, 2, 1931) 50ff.
3 Der Name Phersu, der diesem vermummten Schergen beigeschrieben
ist, hat Anlaß zu weitausgreifenden Studien über den Ursprung des Pulcinella,
die Verwandlung eines Todesdämons in eine „Art von Aufseher oder Leiter des
grausamen Spieles“ gegeben. Siehe vor allem die Ausführungen von Ducati
und Altheim.