Metadaten

Dibelius, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1941/42, 2. Abhandlung): Rom und die Christen im ersten Jahrhundert — Heidelberg, 1942

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.42027#0009
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Rom und die Christen im ersten Jahrhundert

9

schon lebendig verschlungen“. Diese Zuspitzung auf eine vollkom-
mene Anarchie mag durch die Zeit des Rabbi Chananja bestimmt
sein, der als „Vorsteher der Priester“ wohl der letzte „Tempel-
hauptmann“ war und die jüdische Revolution mit den Schrecken
des Römerkrieges kommen sah. Der Gedanke aber hat, wie die
angeführten Beispiele zeigen, seinen festen Platz in jüdischer, viel-
leicht besonders in hellenistisch-jüdischer Tradition — man denke
an Paulus und Josephus.
Dann ist also Paulus für die Formulierung von Röm. 13 nicht
im vollen Maß verantwortlich. Diese Erkenntnis wird nun aufs
stärkste bestätigt durch die Beobachtung, daß die Mahnung bei
Paulus in ihrem Wortlaut so gar keine Spur einer speziell christ-
lichen Begründung zeigt. „Jedermann“, πάσα ψυχή, wird zum Ge-
horsam ermahnt, nicht etwa jeder Christ, und „man muß gehor-
chen“, ανάγκη ύποτάσσεσθαι, lautet die Forderung, ohne daß eine
speziell christliche Begründung gegeben wird. Es ist vielmehr eher
eine philosophische Begründung, die wir hören: „Nicht nur in Rück-
sicht auf das Strafgericht1, sondern aus Überzeugung2“. Diese
Überzeugung beruht auf der Einsicht, daß die Obrigkeit die Rä-
cherin ist, die das göttliche Strafgericht an dem Bösen mit ihrem
Schwert vollstreckt, für den, der Gutes tut, aber Gottes Botin „zum
Guten3“. Vorausgesetzt ist dabei, daß man weiß, was gut und
böse ist, vorausgesetzt ist auch, daß die Obrigkeit es weiß und
danach handelt, also immer den Willen Gottes vollstreckt. Das
Problem einer ungerechten Regierung scheint es nicht zu geben.
1 δΑ τήν οργήν 13, 5 bezieht sich zurück auf εκδικος εις οργήν 13, 4;
dabei muß οργή die göttliche Vergeltung sein, sonst könnte die strafende
Obrigkeit nicht θεοϋ διάκονος heißen; εκδικος aber muß das strafende Han-
deln bezeichnen, sonst wäre die Erwähnung des Schwertes sinnlos. Die Mei-
nung ist also, daß die Obrigkeit mit ihrer Strafe Gottes ,.Zorn“ vollstreckt.
2 συνείδησις bezeichnet in den echten Paulusbriefen nicht unser „Ge-
wissen“, sondern die Überzeugung von Gut und Böse, die einer hat, z. B. in
bezug auf das Essen des Opferfleisches I. Kor. 10, 25—29.
3 Man sollte die Bedeutung der Worte σοί είς τό άγαθόν nicht über-
höhen; also nicht übersetzen „die dich zum Guten erzieht“ (Lietzmann). Ge-
dacht ist offenbar an Schutz und Sicherung des Lebens und Eigentums;
betont ist, daß der Staat grundsätzlich auf das Gute hinwirkt, siehe Beck,
Urgemeinde und Imperium 40f. Vielleicht ist mit είς το αγαθόν die alttesta-
mentliehe Formel „zum Guten“ (le toba) wiedergegeben, mit der eine phrasis
media näher bestimmt wird. s. Ps. 86, 17; Esra 8, 22; rabbinische Beispiele
bei Strack-Billerbeck, Kommentar zum N. T. III 255, vgl. GruNdmana
im Tbeol. Wörterbuch I 16, Anm. 19.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften