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Dibelius, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1941/42, 2. Abhandlung): Rom und die Christen im ersten Jahrhundert — Heidelberg, 1942

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https://doi.org/10.11588/diglit.42027#0040
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Martin Dibelius:

hinnehmen muß, das Altern, die Krankheit, den Tod, auch den
Tod durch Tyrannengewalt. Wer dies erkennt, der hat jene Hal-
tung der Furchtlosigkeit, wie sie die „Galiläer“ besitzen, aber er
hat sie nicht durch „Gewöhnung“, durch eine alle beherrschende
Disziplin, sondern durch sein eigenes persönliches Denken.
Die „Galiläer“ sind zweifellos die Christen. Kein Philosoph
hat Todesbereitschaft als Kennzeichen des Judentums hervor-
gehoben; Epiktet muß also von den Martyrien der Christen wissen.
Die Haltung der Christen imponiert ihm, aber die Begründung im-
poniert ihm nicht. Denn die Christen sind so wie sie sind υπό έθους
— es ist gar kein Grund, den Text zu ändern, denn er stellt die
Art der Christen, natürlich mit einem absichtlich etwas niedrig
gegriffenen Ausdruck, sachlich völlig richtig dar. Die Todesbereit-
schaft der Christen ist vorhanden, aber sie ist nicht philosophisch,
denn sie beruht nicht auf dem richtigen Denken des Individuums.
Die ganze praktische Lebenslehre dieser Stoa, die „Wahrheit vom
Glücklichsein“1, beruht ja auf dem richtigen Denken, das die
menschlichen Möglichkeiten in ihrer Beschränktheit erkennt, und
das, was darüber hinaus liegt, aus Gottes, d. h. der Natur, Händen
empfängt und willkommen heißt. Wer sich darüber aufregt, daß
das Wetter noch nicht günstig zur Seefahrt ist, geht über diese
Möglichkeiten hinaus, „denn2 nicht dich hat Gott zum Verwalter
der Winde gemacht, sondern den Aiolos. Wie steht es also ? Wir
müssen das auf die beste Weise in Ordnung bringen, was in unserer
Macht steht, das andere aber müssen wir nehmen, wie es seiner
Natur nach ist. Wie ist es aber? Wie es der Gott will.“
Der Christ des ersten Jahrhunderts würde dem „natürlichen“
Gang der Dinge nicht so optimistisch gegenüberstehen, sondern
auf die dämonischen Gegenkräfte im Kosmos verweisen, der ja
nicht einfach Gottes unverbildete Ordnung darstelle; er würde
darum auch nicht so gleichgültig denken über einen widrigen Wind,
der ihn etwa von einer als notwendig erkannten Heise abhielte3.
Vor allem aber würde er sein Verhalten in kritischen Lagen —- also
etwa angesichts der Drohungen eines Tyrannen — nicht auf solchen
Überlegungen über die menschlichen Möglichkeiten aufbauen, son-
dern auf dem Glauben, daß Gott ihn bereits der irdischen Ordnung
1 Epiktet, Diss. I 4, 32 τήν άλήθειαν τήν περί εύδαιμονίας δείξειν.
2 Epiktet, Diss. I 116. 17.
3 Paulus sagt in solchem Fall: „Ich wollte euch ein-, zweimal besuchen,
und der Satan hat mich gehindert“ (I. Thess. 2, 18).
 
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