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Hölscher, Gustav; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1941/42, 3. Abhandlung): Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung — Heidelberg, 1942

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https://doi.org/10.11588/diglit.42028#0100
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100 G. Hölscher: Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung
der Gattung der Genealogie. Es handelt sich dabei um systemati-
sierende Bearbeitung der Heroen- und Ahnensage. Eine solche ist
erwachsen aus dem Bedürfnis, ein zusammenhängendes Bild von
der Entstehung der Götter und der Welt, der Völker und Stämme
zu gewinnen, wie dies unter den Griechen Hesiod zuerst versucht
hat. Ähnliches dürfen wir nach dem, was uns aus Sanchuniathon
erhalten ist, auch auf kanaanäischen Boden voraussetzen. So ent-
stand zuerst ein Bild der Vergangenheit, dessen chronologisches
Gerüst eine Rechnung nach Generationen ist1. Genealogische
Arbeiten dieser Art hat J wohl teilweise vor sich gehabt für seine
Stammbäume in Gen 4i7ff. 1128f. 22x0-24 25f—4 36io—14 20-28.2
Die Chroniken einerseits, die Genealogien andererseits sind Vor-
stufen der Geschichtschreibung, aber nicht wirkliche Geschichts-
schreibung; sie gehen, ebenso wie die Sagen- und Novellenstoffe,
nur als Strukturelemente in das Ganze der Darstellung ein. Was J
in seiner Geschichtsschreibung bietet, ist neu, ist sein Eigenes, die
Schöpfung des Genius.
Geistige Schöpfungen der Persönlichkeit sind nicht ursächlich
zu erklären, aber aufzeigen lassen sich die allgemeinen geschicht-
lichen Bedingungen, die sie uns verständlich machen.
Eine allgemeine Voraussetzung für die Entstehung der Ge-
schichtsschreibung ist die Fähigkeit, Erzähltes innerlich zu ver-
knüpfen, zusammenzufassen und zu größeren Einheiten zu gestal-
ten. Das setzt eine längere geistige Entwicklung voraus, in der
Israel, wie auf so vielen anderen Gebieten der Kultur, in die Schule
der Kanaaniter gegangen ist. Was J hier leistet, verdient größte
Bewunderung, wenn man sich die Schwierigkeit der Aufgabe ver-
gegenwärtigt, die schon der bis dahin für ein Prosawerk unerhörte
Umfang seiner Schrift an die Aufnahmefähigkeit und das Gedächt-
nis ebenso wie an das künstlerische Gestaltungsvermögen stellte,
um ein gewaltiges und disparates Material beim Schaffen jeweils
präsent zu haben und zu ordnen3.
Eine andere Voraussetzung ist das erwachende Bedürfnis nach
Wissen und Erkenntnis. Das sachliche Interesse ist gewachsen auf
Kosten der poetischen Kraft. Das von der mythischen Phantasie
geschaffene Bild der Welt und der Vergangenheit befriedigt nicht
1 Siehe oben S. 32 f.
2 Siehe oben S. 33.
3 Vgl. O. Regenbogen, Herodot und sein Werk, in: Die Antike II, 1930,
S. 219.
 
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