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Panzer, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1949/50, 2. Abhandlung): Vom mittelalterlichen Zitieren — Heidelberg, 1950

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https://doi.org/10.11588/diglit.42217#0031
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Vom mittelalterlichen Zitieren

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die Maler ihnen recht nachlässig folgten, ja gelegentlich wohl etwas
ganz anderes malten als gefordert war. So geraten die Bilder öfter
in Widerspruch zum Text. Das ist in der Manessischen Hs. z. B.
beim Bilde vor Hadlaubs Gedichten der Fall. Das Doppelbild
widerspricht dem Texte des illustrierten Liedes in beiden Streifen.
Im Liede hat nicht das Hündchen der Dame ihren Liebhaber in die
Hand gebissen, sondern die Dame selbst, und der Sänger hat seinen
Liebesbrief ihr nicht ans Kleid gehängt, als sie ins Münster eintrat,
sondern als sie es verließ.
Ähnliche Läßlichkeiten zeigen sich in anderem Sinne dadurch,
daß beispielsweise in der Kasseler Bilderhs. des Willehalm von Orlens
siebenmal der Turm gemalt ist, in dem Willehalm als Gefangener
eingesperrt lag. Die sieben Darstellungen des Turms sind zwar ein-
ander ähnlich, aber nicht zweimal ist der Turm wirklich gleich ge-
zeichnet. D. h. also, wir haben hier genau dieselbe Läßlichkeit in
der Wiedergabe von Szenen der Dichtung wie heim Zitieren: Ähn-
lichkeit statt der logisch und so von der Gegenwart geforderten
Identität.
Ist es zu kühn, wenn ich in diesem Zusammenhänge auch darauf
verweise, daß in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters,
insonderheit der Architektur, eine ausgesprochene Abneigung gegen
jede Symmetrie, d. h. also gegen identische Wiederholung sich zeigt ?
Ich erinnere nur an eine Tatsache, die gewiß jedem von Ihnen leb-
haft gegenwärtig ist. In dem im kunstgeschichtlichen Sinne roma-
nischen Zeitalter hat der Außenbau der Basilika aus frühromani-
schen Anfängen in jener hochromanischen Stilperiode, aus der auch
die vorher besprochenen literarischen Belege genommen wurden,
durch die vieltürmige Komposition jene großartigen Silhouetten
gebildet, die für die Gesamtansicht unserer alten Städte im beson-
deren Maße bestimmend sind oder waren. Drei-, vier-, fünf- und
am Rheine seihst sechstürmige Gruppen werden gebildet. Die Flan-
kentürme sollten, so müßte man denken, paarweise stehend, streng
symmetrisch gebildet sein, sind es aber nur selten; in der Regel
zeigen sie geringe, aber auch sehr weitgehende Asymmetrie. G.
Dehio (Geschichte der deutschen Kunst 1, 1919, S. 126) stellt fest,
es gehöre „zur eigensten Natur des deutsch-romanischen Form-
gefühls, daß es, je klarer es sich seiner selbst bewußt ist, umso lieber
der letzten Strenge der Symmetrie ausweicht, ähnlich wie ja auch
in der organischen Lebensform die symmetrisch angeordneten Teile
niemals einander vollkommen gleich sind... Selbst von den Fassaden-
 
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