Vom mittelalterlichen Zitieren
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Man könnte mit etwas freierem Ausdrucke sagen, daß eine Zi-
tierung des Waltherschen Spruches vom Thüringer Hofe bei Wolf-
ram durch die Worte Quoten tac, boese unde guotl den Spruch gleich-
falls im Pars pro toto und gleichsam durch das Symbol eines Gruß-
wortes wiedergegeben habe. So steht in der Manessehandschrift
an der Stelle von Walthers Bildnis gleichfalls symbolisch die Illu-
stration der Eingangsszene seines Spruches Ich saz üf eime steine.
Aber ich will mich nicht weiter in kulturphilosophische Speku-
lationen verlieren. Wie alledem auch sei, so dürfen wir feststellen,
daß in dem von uns an der Eigenart mittelalterlichen Zitierens
Festgestellten eine Diskrepanz zwischen mittelalterlichem und mo-
dernem Denken hervorgetreten ist. Versuchen wir sie auf logische
Formeln zu bringen, so dürften wir sagen, daß es sich um eine ver-
schiedene Abgrenzung des Begriffes der Identität handle.
„Identität“, sagt Harald Höffding (Der menschliche Gedanke,
seine Formen und seine Aufgaben 1911, S. 193), „ist ein Grad oder
eine Art von Ähnlichkeit. Durch eine Reihe von Ähnlichkeitsgraden
steigt das Denken zur Identität empor.“ Man kann sich danach
eine kontinuierliche, in sich etwa rhythmisch geordnete Reihe unter
dem Bilde einer Feiter vorstellen, deren oberste Sprosse als Iden-
tität in jenem strengen Sinne erscheint, nach der Identität die
Gleichheit eines Erlebnisses mit sich selbst ist. Diese Art Identität
verlangt unser heutiges Denken bei einem Zitate: nach der strengen
Formel A=A verlangen wir Anführung im Wortlaut. Das mittel-
alterliche Zitieren bleibt auf der beschriebenen Ähnlichkeitsleiter
einige Sprossen unterhalb der obersten zurück, auf der für unser
Denken erst die Identität sich vollzieht. Feibnitz hat die Identität
als Substitution definiert: Identisch sind Begriffe, von denen einer
an die Stelle des anderen gesetzt werden kann, ohne daß die Gültig-
keit des Urteils aufgehoben wird. Das Mittelalter nimmt in seinen
Zitaten solche Substitution schon mit Begriffen, Begriffsreihen
oder Erlebnissen vor, von denen nur Teile oder Eigenschaften iden-
tisch, andere aber voneinander verschieden sind. Nach dieser seiner
Art des Denkens waren die beiden Brieftexte Heinrichs IV. ebenso
identisch und füreinander substituierbar wie Wolframs „Guoten
tac bcese unde guot“ und der Walthersche Spruch.
Die Richtigkeit dieser Auffassung läßt sich noch durch eine
sprachgeschichtliche Tatsache erhärten, die ein helles Ficht wirft
auf das, was wir über das Wesen unserer mittelalterlichen Zitate
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Man könnte mit etwas freierem Ausdrucke sagen, daß eine Zi-
tierung des Waltherschen Spruches vom Thüringer Hofe bei Wolf-
ram durch die Worte Quoten tac, boese unde guotl den Spruch gleich-
falls im Pars pro toto und gleichsam durch das Symbol eines Gruß-
wortes wiedergegeben habe. So steht in der Manessehandschrift
an der Stelle von Walthers Bildnis gleichfalls symbolisch die Illu-
stration der Eingangsszene seines Spruches Ich saz üf eime steine.
Aber ich will mich nicht weiter in kulturphilosophische Speku-
lationen verlieren. Wie alledem auch sei, so dürfen wir feststellen,
daß in dem von uns an der Eigenart mittelalterlichen Zitierens
Festgestellten eine Diskrepanz zwischen mittelalterlichem und mo-
dernem Denken hervorgetreten ist. Versuchen wir sie auf logische
Formeln zu bringen, so dürften wir sagen, daß es sich um eine ver-
schiedene Abgrenzung des Begriffes der Identität handle.
„Identität“, sagt Harald Höffding (Der menschliche Gedanke,
seine Formen und seine Aufgaben 1911, S. 193), „ist ein Grad oder
eine Art von Ähnlichkeit. Durch eine Reihe von Ähnlichkeitsgraden
steigt das Denken zur Identität empor.“ Man kann sich danach
eine kontinuierliche, in sich etwa rhythmisch geordnete Reihe unter
dem Bilde einer Feiter vorstellen, deren oberste Sprosse als Iden-
tität in jenem strengen Sinne erscheint, nach der Identität die
Gleichheit eines Erlebnisses mit sich selbst ist. Diese Art Identität
verlangt unser heutiges Denken bei einem Zitate: nach der strengen
Formel A=A verlangen wir Anführung im Wortlaut. Das mittel-
alterliche Zitieren bleibt auf der beschriebenen Ähnlichkeitsleiter
einige Sprossen unterhalb der obersten zurück, auf der für unser
Denken erst die Identität sich vollzieht. Feibnitz hat die Identität
als Substitution definiert: Identisch sind Begriffe, von denen einer
an die Stelle des anderen gesetzt werden kann, ohne daß die Gültig-
keit des Urteils aufgehoben wird. Das Mittelalter nimmt in seinen
Zitaten solche Substitution schon mit Begriffen, Begriffsreihen
oder Erlebnissen vor, von denen nur Teile oder Eigenschaften iden-
tisch, andere aber voneinander verschieden sind. Nach dieser seiner
Art des Denkens waren die beiden Brieftexte Heinrichs IV. ebenso
identisch und füreinander substituierbar wie Wolframs „Guoten
tac bcese unde guot“ und der Walthersche Spruch.
Die Richtigkeit dieser Auffassung läßt sich noch durch eine
sprachgeschichtliche Tatsache erhärten, die ein helles Ficht wirft
auf das, was wir über das Wesen unserer mittelalterlichen Zitate
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