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Hans Frhr. von Campenhausen
Wendung zugrunde liegt, kaum etwas ausgesagt. Andererseits ist es natür-
lich wohl möglich und geschieht fortwährend, daß man aus den allgemeinen
theologischen Voraussetzungen der urchristlichen Verkündigung systema-
tische Folgerungen zieht, aus denen sich dann Sinn und Funktion des
ältesten Kirchenrechts angeblich näher bestimmen lassen. Aber solche
Kombinationen bleiben immer problematisch. Man kann beispielsweise
aus dem Verständnis der Kirche als Gestalt des verfaßten Gottesvolkes
oder aus der alles nur „Rechtliche“ durchbrechenden Bedeutung des Liebes-
und Vergebungsgedankens zu sehr verschiedenen konkreten Folgerungen
gelangen. Es kommt darauf an, gerade dies an Hand der Quellen zu be-
stimmen, auf welchen Wegen die theologische Gesamtauffassung der
Kirche zu solchen Konsequenzen geführt wird. Nur an der Art, mit
der die religiöse Überzeugung in der kirchlichen Wirklichkeit praktisch
zur Geltung gebracht und diese Geltung theologisch begründet und ver-
standen wird, läßt es sich erkennen, was das „Kirchenrecht“ in der Kirche
ursprünglich bedeutet hat und was nicht. Bleiben unsere Quellen in dieser
Hinsicht stumm, so hängen alle Spekulationen über das „Wesen“ eines
urchristlichen Kirchenrechts in der Luft. Sie sind moderne Theologie, die
mit den alten Gegebenheiten mehr oder weniger gut zusammenstimmen
mag; aber historisch gesehen sind sie nichts als Konstruktion.
Es wäre nicht eigentlich überraschend, wenn wir in dieser Frage tat-
sächlich resignieren müßten. Gerade in den Anfängen einer starken reli-
giösen Bewegung pflegt man nicht viel über Rechtsgrundsätze zu reflek-
tieren, auch wenn man sie praktisch befolgt, und nichts ist verkehrter, als
den Quellen Antworten auf solche Fragen abzuverlangen, die sie sich selbst
noch gar nicht gestellt haben. So scheint es mir in der Tat unbestreitbar,
daß es eine ausgebildete neutestamentliche „Lehre“ über das Recht und
die Bedeutung des Rechts in der Kirche nicht gegeben hat und daß es
darum müßig wäre, unmittelbar nach etwas derartigem zu forschen. Aber
es gibt ja auch andere wesentliche Fragen, die im Neuen Testament nicht
ausdrücklich „gelehrt“, aber trotzdem insehr aufschlußreicherWeise berührt
und beleuchtet werden. Mir scheint, daß sich auch über die Stellung und
Funktion des werdenden „Kirchenrechts“ einiges ausmachen ließe, wenn
man schärfer als bisher die Begründungen ins Auge faßte, mit der be-
stimmte kirchliche Ordnungen und Vorschriften jeweils eingeführt, mo-
tiviert und interpretiert werden. Sofern das gelingt, geben uns die Quellen
dadurch gewissermaßen ganz absichtslos zu erkennen, wie sie das Recht
in der Kirche verstehen und durchsetzen wollen, und sofern sie innerlich
konsequent verfahren sind, erhalten wir so zum mindesten die Ansätze
und Maßstäbe der Beurteilung für die spätere, systematischere Begründung
seiner Geltung und Funktion.
Es mag, wie gesagt, zweifelhaft erscheinen, ob und wieweit unser Ver-
such überhaupt zum Ziel führen kann. Es ist auch damit zu rechnen, daß
Hans Frhr. von Campenhausen
Wendung zugrunde liegt, kaum etwas ausgesagt. Andererseits ist es natür-
lich wohl möglich und geschieht fortwährend, daß man aus den allgemeinen
theologischen Voraussetzungen der urchristlichen Verkündigung systema-
tische Folgerungen zieht, aus denen sich dann Sinn und Funktion des
ältesten Kirchenrechts angeblich näher bestimmen lassen. Aber solche
Kombinationen bleiben immer problematisch. Man kann beispielsweise
aus dem Verständnis der Kirche als Gestalt des verfaßten Gottesvolkes
oder aus der alles nur „Rechtliche“ durchbrechenden Bedeutung des Liebes-
und Vergebungsgedankens zu sehr verschiedenen konkreten Folgerungen
gelangen. Es kommt darauf an, gerade dies an Hand der Quellen zu be-
stimmen, auf welchen Wegen die theologische Gesamtauffassung der
Kirche zu solchen Konsequenzen geführt wird. Nur an der Art, mit
der die religiöse Überzeugung in der kirchlichen Wirklichkeit praktisch
zur Geltung gebracht und diese Geltung theologisch begründet und ver-
standen wird, läßt es sich erkennen, was das „Kirchenrecht“ in der Kirche
ursprünglich bedeutet hat und was nicht. Bleiben unsere Quellen in dieser
Hinsicht stumm, so hängen alle Spekulationen über das „Wesen“ eines
urchristlichen Kirchenrechts in der Luft. Sie sind moderne Theologie, die
mit den alten Gegebenheiten mehr oder weniger gut zusammenstimmen
mag; aber historisch gesehen sind sie nichts als Konstruktion.
Es wäre nicht eigentlich überraschend, wenn wir in dieser Frage tat-
sächlich resignieren müßten. Gerade in den Anfängen einer starken reli-
giösen Bewegung pflegt man nicht viel über Rechtsgrundsätze zu reflek-
tieren, auch wenn man sie praktisch befolgt, und nichts ist verkehrter, als
den Quellen Antworten auf solche Fragen abzuverlangen, die sie sich selbst
noch gar nicht gestellt haben. So scheint es mir in der Tat unbestreitbar,
daß es eine ausgebildete neutestamentliche „Lehre“ über das Recht und
die Bedeutung des Rechts in der Kirche nicht gegeben hat und daß es
darum müßig wäre, unmittelbar nach etwas derartigem zu forschen. Aber
es gibt ja auch andere wesentliche Fragen, die im Neuen Testament nicht
ausdrücklich „gelehrt“, aber trotzdem insehr aufschlußreicherWeise berührt
und beleuchtet werden. Mir scheint, daß sich auch über die Stellung und
Funktion des werdenden „Kirchenrechts“ einiges ausmachen ließe, wenn
man schärfer als bisher die Begründungen ins Auge faßte, mit der be-
stimmte kirchliche Ordnungen und Vorschriften jeweils eingeführt, mo-
tiviert und interpretiert werden. Sofern das gelingt, geben uns die Quellen
dadurch gewissermaßen ganz absichtslos zu erkennen, wie sie das Recht
in der Kirche verstehen und durchsetzen wollen, und sofern sie innerlich
konsequent verfahren sind, erhalten wir so zum mindesten die Ansätze
und Maßstäbe der Beurteilung für die spätere, systematischere Begründung
seiner Geltung und Funktion.
Es mag, wie gesagt, zweifelhaft erscheinen, ob und wieweit unser Ver-
such überhaupt zum Ziel führen kann. Es ist auch damit zu rechnen, daß