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Campenhausen, Hans; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1957, 2. Abhandlung): Die Begründung kirchlicher Entscheidungen beim Apostel Paulus: zur Grundlegung des Kirchenrechts — Heidelberg, 1957

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https://doi.org/10.11588/diglit.42454#0032
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Hans Frhr. von Campenhausen

sittliche Gegebenheiten oder irgendwelche natürliche oder philosophische
Rechtsideen nach den geschichtlichen Grundvoraussetzungen des paulini-
schen Denkens gar nicht in Betracht kommen kann. Paulus kann etwas Der-
artiges höchstens kontrastierend oder unterstreichend heranziehen, als
eine Mindestforderung oder eine Selbstverständlichkeit, hinter der das
überschwengliche, geistliche Leben der Christen keinesfalls Zurückbleiben
darf64. So heißt es etwa im Falle des sogenannten „Blutschänders“, daß die
Duldung solcher Unzucht „nicht einmal bei den Heiden“ begegne65. Das,
was überall Unrecht ist, ist es auch in der Kirche, und was über-
all mit Recht geboten erscheint, ist, so gesehen, hier erst recht zu
erfüllen66. In diesem Sinne kann Paulus auch einen umlaufenden heid-
nischen Dichtervers oder ein Sprichwort — freilich ohne jede absichtliche
Betonung — gelegentlich zitieren67, und er beruft sich, wie wir gesehen
haben, sogar ausdrücklich auf das Zeugnis der „Natur“ und des natür-
lichen Anstands68. In solchen Sätzen klingen der Stil und die Schlagworte
der zeitgenössischen populären Philosophie und Bildung irgendwie nach.
Aber es wäre gewiß verkehrt, aus derartigen leicht verständlichen Wen-
dungen so etwas wie ein ausdrückliches Bekenntnis zum „Naturrecht“ zu
machen und Paulus künstlich auf eine Ideenwelt zu beziehen, mit der er
seiner Herkunft und seinem Wollen nach sonst gar nichts gemein hat69.
Ebenso ist die eigentümliche Struktur der paulinischen Paränese, die
bekannte Rückbeziehung aller Imperative und Hortative auf einen grund-
legenden Indikativ des geschenkten Heils, nur aus dem geschichtlichen
Wesen der urchristlichen Gemeinde verständlich. Sie geht insbesondere
auf die typischen Gegebenheiten einer vielleicht schon älteren Tauf-
paränese zurück70: Paulus redet seine Leser appellierend auf eine geist-
liche Wirklichkeit und Heiligkeit an, die sie als die erwählte Gemeinde
immer schon tatsächlich empfangen haben und eben darum nicht ver-
leugnen, sondern in ihrem Leben jetzt bewahren und bewähren müssen.

64 Diese relative Bejahung des allgemeinen Rechtsgefühls bleibt freilich wesent-
lich, sobald man sie mit den „weltfeindlichen“ oder libertinistisdien Äuße-
rungen mancher Gnostiker und späterer Asketen und Sektierer zusammenhält.
Innerhalb des Neuen Testaments ist sie selbstverständlich und hat besonders
in den Jesusworten vielfache Analogien.
85 O. S. 15.
68 O. S. 24 f.
67 I. Kor. 5,6 (= Gal. 5, 9); 15, 33; II. Kor. 9, 6; 12, 11; vgl. II. Thess. 3, 10 o.S. 12.
Vgl. M. Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte (1951) 49 ff. 160.
68 O. S. 23.
69 Allerdings wäre es Willkür, mit F. Flückiger, Geschichte des Naturrechts 1
(1954) 296 rundweg zu leugnen, daß Paulus vom natürlichen Anstand durch-
aus im Sinne „einer allgemeinen Naturordnung“ redet.
70 Vgl. hierzu Dinkler, a. a. 0. S. 194 ff.
 
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