Die Begründung kirchlicher Entscheidungen beim Apostel Paulus
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Alle Mahnung und Forderung steht danach im Zeichen der „Erinnerung“71
— der Erinnerung nicht nur an die entscheidenden christologischen Heils-
taten als solche, sondern auch an die jeweilige Gründung der konkreten
Gemeinde und an die Bekehrung und Taufe jedes einzelnen ihrer Glie-
der. Aus diesem Berufen- und Geheiligtsein der ganzen Gemeinde er-
geben sich weiter der charakteristische Verzicht auf jede Art des Zwanges,
auch hinsichtlich der Stellung und Autorität des Apostels selbst, die Ab-
lehnung eines nur äußerlichen und die Forderung eines schlechthin um-
fassenden, d. h. willigen, „sehenden“ und verstehenden Gehorsams72,
also jene Züge, die einer älteren protestantischen Theologie in der Nach-
folge Sohms als Verzicht auf das Recht und bindende Setzungen über-
haupt erschienen.
Allein die Heiligkeit und geistliche Freiheit der Gemeinde hindert
Paulus in Wahrheit durchaus nicht, ganz bestimmte Forderungen für ihre
Lebensordnung und auch für ihren „Glauben“ anzumelden und deren
dauernde Beachtung zu verlangen. Er tut das, gerade weil er davon
überzeugt ist, daß sie das Rechte und das daraus sich ergebende Recht in
seiner Angemessenheit erkennen und bejahen muß, ja daß es im Grunde
„beschämend“ ist, wenn sie es nicht schon von sich aus erkannt hat. Der
„geistliche“ Charakter dieser praktischen Erkenntnis liegt nicht so sehr in
einer besonderen, „übernatürlichen“ Erleuchtung oder Denkmethode als
vielmehr darin, daß sie in ihrer verpflichtenden Kraft jetzt auf Christus
und die kirchliche Berufung zurückgeht, auf die Tat Gottes, die das Leben
aller, die zu ihm gehören, ein für allemal durch den Geist bestimmt hat
und bestimmt. Der rechte Abstand und die rechte Fügung gegenüber den
draußen stehenden Heiden, die sittliche Zucht und der richtende Ernst
in der eigenen Gemeinschaft, Liebe und Freiheit im Umgang mit den
Brüdern, die Treue zur ursprünglichen Botschaft und der Zusammenhalt
mit den Gemeinden in aller Welt — all dies ergibt sich von hier aus
gewissermaßen „von selbst“ und kann in seiner jeweiligen Bedingtheit
und Bedeutung auch sehr wohl erklärt und begründet werden. Diese
sachliche Nüchternheit des Weisens und Motivierens, die sich nicht mit
prophetischen Proklamationen und enthusiastischen Beschwörungen zu-
frieden gibt, ist in unseren Texten das eigentlich Bezeichnende und fällt
um so mehr auf, als Paulus seinem Empfinden und Wollen nach alles
andere als ein juristisch rationaler Logiker gewesen ist, sondern für seine
eigene Person vielmehr geheime Enthüllungen, Weisungen und Ent-
rückungen kennt und die Fülle der wunderbaren, das natürliche Seelen-
71 Vgl. hierzu den grundlegenden Artikel von N. A. Dahl, Anamnesis, Stud.
Theol. 1 (1947) 69 ff.
72 Ich brauche diese Dinge hier nicht näher auszuführen und verweise auf meine
früheren Darlegungen: Recht und Gehorsam in der ältesten Kirche, Theol. Blät-
ter 20 (1941) 279 ff. und: Amt und Vollmacht S. 32 ff.
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Alle Mahnung und Forderung steht danach im Zeichen der „Erinnerung“71
— der Erinnerung nicht nur an die entscheidenden christologischen Heils-
taten als solche, sondern auch an die jeweilige Gründung der konkreten
Gemeinde und an die Bekehrung und Taufe jedes einzelnen ihrer Glie-
der. Aus diesem Berufen- und Geheiligtsein der ganzen Gemeinde er-
geben sich weiter der charakteristische Verzicht auf jede Art des Zwanges,
auch hinsichtlich der Stellung und Autorität des Apostels selbst, die Ab-
lehnung eines nur äußerlichen und die Forderung eines schlechthin um-
fassenden, d. h. willigen, „sehenden“ und verstehenden Gehorsams72,
also jene Züge, die einer älteren protestantischen Theologie in der Nach-
folge Sohms als Verzicht auf das Recht und bindende Setzungen über-
haupt erschienen.
Allein die Heiligkeit und geistliche Freiheit der Gemeinde hindert
Paulus in Wahrheit durchaus nicht, ganz bestimmte Forderungen für ihre
Lebensordnung und auch für ihren „Glauben“ anzumelden und deren
dauernde Beachtung zu verlangen. Er tut das, gerade weil er davon
überzeugt ist, daß sie das Rechte und das daraus sich ergebende Recht in
seiner Angemessenheit erkennen und bejahen muß, ja daß es im Grunde
„beschämend“ ist, wenn sie es nicht schon von sich aus erkannt hat. Der
„geistliche“ Charakter dieser praktischen Erkenntnis liegt nicht so sehr in
einer besonderen, „übernatürlichen“ Erleuchtung oder Denkmethode als
vielmehr darin, daß sie in ihrer verpflichtenden Kraft jetzt auf Christus
und die kirchliche Berufung zurückgeht, auf die Tat Gottes, die das Leben
aller, die zu ihm gehören, ein für allemal durch den Geist bestimmt hat
und bestimmt. Der rechte Abstand und die rechte Fügung gegenüber den
draußen stehenden Heiden, die sittliche Zucht und der richtende Ernst
in der eigenen Gemeinschaft, Liebe und Freiheit im Umgang mit den
Brüdern, die Treue zur ursprünglichen Botschaft und der Zusammenhalt
mit den Gemeinden in aller Welt — all dies ergibt sich von hier aus
gewissermaßen „von selbst“ und kann in seiner jeweiligen Bedingtheit
und Bedeutung auch sehr wohl erklärt und begründet werden. Diese
sachliche Nüchternheit des Weisens und Motivierens, die sich nicht mit
prophetischen Proklamationen und enthusiastischen Beschwörungen zu-
frieden gibt, ist in unseren Texten das eigentlich Bezeichnende und fällt
um so mehr auf, als Paulus seinem Empfinden und Wollen nach alles
andere als ein juristisch rationaler Logiker gewesen ist, sondern für seine
eigene Person vielmehr geheime Enthüllungen, Weisungen und Ent-
rückungen kennt und die Fülle der wunderbaren, das natürliche Seelen-
71 Vgl. hierzu den grundlegenden Artikel von N. A. Dahl, Anamnesis, Stud.
Theol. 1 (1947) 69 ff.
72 Ich brauche diese Dinge hier nicht näher auszuführen und verweise auf meine
früheren Darlegungen: Recht und Gehorsam in der ältesten Kirche, Theol. Blät-
ter 20 (1941) 279 ff. und: Amt und Vollmacht S. 32 ff.