Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse
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und zugleich lebendig entwickelt, wie wir dies heute vornehmlich
aus Musikstücken kennen. Diese straffe und zugleich organische
Struktur ist offenbar für den Dichter unserer Partie charakteristisch.
Und so dürfen wir vernünftigerweise wohl erwarten, daß diese
Struktur auch die nun folgende Szene der eigentlichen Wieder-
erkennung zwischen Odysseus und Penelope beherrscht, der wir uns
nun zuwenden.
4.
Dies ist zunächst wirklich der Fall. Am Anfang die gedrängte
Schilderung, wie Penelope vom Obergeschoß in die Halle hinab-
steigt, wie das Herz ihr unschlüssig bewegt ist, ob sie den Gatten
von fern befragen oder an ihn herantreten und ihn küssen soll. In
die Halle eingetreten, setzt sie sich ihm an der anderen Wand gegen-
über. Er sitzt am großen Pfeiler und blickt zu Boden und wartet, ob
sie etwas zu ihm sagen werde. Sie sitzt stumm da, eine Erstarrung
ist ihr über das Herz gekommen, und bald schaut sie ihm mit ihrem
Blick ins Antlitz, dann aber kann sie ihn in seiner schlechten Klei-
dung wieder nicht erkennen. — Eine Situation ist mit diesen weni-
gen Worten geschildert, die ausweglos zu sein scheint: stumme Er-
wartung auf der einen Seite, Erstarrung auf der anderen. Man sieht
nicht, wie die beiden Gatten in dieser Lage wohl zueinander ge-
langen könnten.
In einer solchen festgefahrenen Situation bedarf es — im Mensch-
lich-Intimen genauso wie in größeren Verhältnissen — eines Ver-
mittlers, der das Schweigen bricht und das Gespräch in Gang bringt.
Dieser Vermittler zwischen Mann und Frau ist naturgemäß der
Sohn, Telemachos10. Er legt sich recht eigentlich ins Mittel, indem er
in liebevoller Weise die Mutter schilt: ,Was sie für einen abweisen-
den Sinn hat. Keine andere Frau würde so von ihrem Manne weg-
stehen, der nach vielen Leiden im zwanzigsten Jahr heimkehrt. Sie
für diese Beanstandungen, die z.B. der Eurykleia ihr wichtigstes Überzeugungs-
mittel, die Erwähnung der Narbe, als ,grob verdeutlichende Berufung“ mit
,ihrer häßlichen Rekapitulation“ nehmen, keinen zureichenden Grund zu er-
kennen und streiche nur Vers 48, der in verschiedenen Handschriften fehlt.
10 Wie in einem äußerlich anderen, aber strukturell ähnlichen Zusammenhang im
sechsten Buch der Ilias der Knabe Astyanax zwischen Hektor und Andromache.
Vgl. ,Von Homers Welt und Werk“, Stuttgart3 1959, 221 ff.
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und zugleich lebendig entwickelt, wie wir dies heute vornehmlich
aus Musikstücken kennen. Diese straffe und zugleich organische
Struktur ist offenbar für den Dichter unserer Partie charakteristisch.
Und so dürfen wir vernünftigerweise wohl erwarten, daß diese
Struktur auch die nun folgende Szene der eigentlichen Wieder-
erkennung zwischen Odysseus und Penelope beherrscht, der wir uns
nun zuwenden.
4.
Dies ist zunächst wirklich der Fall. Am Anfang die gedrängte
Schilderung, wie Penelope vom Obergeschoß in die Halle hinab-
steigt, wie das Herz ihr unschlüssig bewegt ist, ob sie den Gatten
von fern befragen oder an ihn herantreten und ihn küssen soll. In
die Halle eingetreten, setzt sie sich ihm an der anderen Wand gegen-
über. Er sitzt am großen Pfeiler und blickt zu Boden und wartet, ob
sie etwas zu ihm sagen werde. Sie sitzt stumm da, eine Erstarrung
ist ihr über das Herz gekommen, und bald schaut sie ihm mit ihrem
Blick ins Antlitz, dann aber kann sie ihn in seiner schlechten Klei-
dung wieder nicht erkennen. — Eine Situation ist mit diesen weni-
gen Worten geschildert, die ausweglos zu sein scheint: stumme Er-
wartung auf der einen Seite, Erstarrung auf der anderen. Man sieht
nicht, wie die beiden Gatten in dieser Lage wohl zueinander ge-
langen könnten.
In einer solchen festgefahrenen Situation bedarf es — im Mensch-
lich-Intimen genauso wie in größeren Verhältnissen — eines Ver-
mittlers, der das Schweigen bricht und das Gespräch in Gang bringt.
Dieser Vermittler zwischen Mann und Frau ist naturgemäß der
Sohn, Telemachos10. Er legt sich recht eigentlich ins Mittel, indem er
in liebevoller Weise die Mutter schilt: ,Was sie für einen abweisen-
den Sinn hat. Keine andere Frau würde so von ihrem Manne weg-
stehen, der nach vielen Leiden im zwanzigsten Jahr heimkehrt. Sie
für diese Beanstandungen, die z.B. der Eurykleia ihr wichtigstes Überzeugungs-
mittel, die Erwähnung der Narbe, als ,grob verdeutlichende Berufung“ mit
,ihrer häßlichen Rekapitulation“ nehmen, keinen zureichenden Grund zu er-
kennen und streiche nur Vers 48, der in verschiedenen Handschriften fehlt.
10 Wie in einem äußerlich anderen, aber strukturell ähnlichen Zusammenhang im
sechsten Buch der Ilias der Knabe Astyanax zwischen Hektor und Andromache.
Vgl. ,Von Homers Welt und Werk“, Stuttgart3 1959, 221 ff.