Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse
17
weil er schmutzig sei und schlechte Kleider trage. Ein solcher
,lächelnd4 vorgebrachter Vorwurf wird vorgebracht, nicht weil man
selber an den Vorwurf glaubt, sondern weil man den anderen
,reizen4 will. Das Wort des Odysseus 115f.: „Doch vorläufig ver-
achtet sie mich, weil ich schmutzig bin . . . und meint noch nicht, daß
ich es bin“ ist ein Reizwort. Solche Reizworte gehören in die feste
Form von solchen verhaltenen Gesprächen. Wir kennen sie vor
allem als ein Mittel, wie Liebende in der Verhaltenheit wohl mit-
einander umgehen. Das bekannte ,fishing for compliments4 ist eine
Trivialform davon. Und ein Gespräch, das sich in einer scheuen und
verhaltenen Situation solcher Reizworte bedient, sei — um auch die-
ser Struktur einen Namen zu geben — als ,ReizgespräcK bezeichnet13.
Das Gespräch des Odysseus und der Penelope, seiner äußeren
Form nach ein Übereckgespräch, ist seiner inneren Struktur nach als-
bald ein Reizgespräch geworden. Es will reizen, den anderen her-
vorlocken, will, daß der andere trotz seiner scheuen Zurückhaltung,
weil er gereizt ist, in der Gereiztheit eben doch den Ball fängt. Und
Penelope fängt den Ball. „Seltsamer!44, sagt sie aufgebracht, „gar
nicht tue ich groß noch bin ich geringschätzig noch gar zu sehr be-
troffen. Nein, ich weiß sehr wohl, wie du (!) warst, als du Ithaka
verließest.“ Da hat sie ihn unvermerkt selber angeredet und ihn im
Grunde auch schon anerkannt: ,wie ,du warst, als du Ithaka ver-
ließest4; und gibt ihm nun sofort auch den Ball zurück, indem sie der
Eurykleia den Befehl gibt, sie solle das Bett des Odysseus aus der
Kammer stellen. Da fängt denn Odysseus den Ball, indem er nun
seinerseits betroffen fragt, wer denn sein Bett woanders hingestellt
habe, da er es doch mit eigener Hand aus jenem Ölbaum gefertigt
habe, der fest an seiner Stelle wurzelt. Odysseus bezeugt so, daß er
das Geheimnis des Bettes kennt, und hat damit auch jene Probe
bestanden, die Penelope überzeugt, daß er es ist.
Die soweit beschriebene Struktur des Gesprächs zwischen Tele-
machos, Odysseus und Penelope, als Übereckgespräch, als Reiz-
gespräch, läßt das gleiche straff fortschreitende, gesetzmäßig leben-
dige musikalische Gefüge erkennen wie die vorhergehende Weck-
szene mit Eurykleia und Penelope — allerdings erst nach Anstel-
lung jener Operation, von der ich vorher gesprochen habe: nämlich
nach Weglassung jener Digression von V. 117 —172, die, wie wir
13 Über die Bedeutung des ,Reizens‘ bei den Göttern der Ilias vor allem im Hin-
blick auf Ilias 4, 5 ff. K. Reinhardt, ,Von Werken und Formen1, Godesberg
1948, 23.
2 Schadewaldt, Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse
17
weil er schmutzig sei und schlechte Kleider trage. Ein solcher
,lächelnd4 vorgebrachter Vorwurf wird vorgebracht, nicht weil man
selber an den Vorwurf glaubt, sondern weil man den anderen
,reizen4 will. Das Wort des Odysseus 115f.: „Doch vorläufig ver-
achtet sie mich, weil ich schmutzig bin . . . und meint noch nicht, daß
ich es bin“ ist ein Reizwort. Solche Reizworte gehören in die feste
Form von solchen verhaltenen Gesprächen. Wir kennen sie vor
allem als ein Mittel, wie Liebende in der Verhaltenheit wohl mit-
einander umgehen. Das bekannte ,fishing for compliments4 ist eine
Trivialform davon. Und ein Gespräch, das sich in einer scheuen und
verhaltenen Situation solcher Reizworte bedient, sei — um auch die-
ser Struktur einen Namen zu geben — als ,ReizgespräcK bezeichnet13.
Das Gespräch des Odysseus und der Penelope, seiner äußeren
Form nach ein Übereckgespräch, ist seiner inneren Struktur nach als-
bald ein Reizgespräch geworden. Es will reizen, den anderen her-
vorlocken, will, daß der andere trotz seiner scheuen Zurückhaltung,
weil er gereizt ist, in der Gereiztheit eben doch den Ball fängt. Und
Penelope fängt den Ball. „Seltsamer!44, sagt sie aufgebracht, „gar
nicht tue ich groß noch bin ich geringschätzig noch gar zu sehr be-
troffen. Nein, ich weiß sehr wohl, wie du (!) warst, als du Ithaka
verließest.“ Da hat sie ihn unvermerkt selber angeredet und ihn im
Grunde auch schon anerkannt: ,wie ,du warst, als du Ithaka ver-
ließest4; und gibt ihm nun sofort auch den Ball zurück, indem sie der
Eurykleia den Befehl gibt, sie solle das Bett des Odysseus aus der
Kammer stellen. Da fängt denn Odysseus den Ball, indem er nun
seinerseits betroffen fragt, wer denn sein Bett woanders hingestellt
habe, da er es doch mit eigener Hand aus jenem Ölbaum gefertigt
habe, der fest an seiner Stelle wurzelt. Odysseus bezeugt so, daß er
das Geheimnis des Bettes kennt, und hat damit auch jene Probe
bestanden, die Penelope überzeugt, daß er es ist.
Die soweit beschriebene Struktur des Gesprächs zwischen Tele-
machos, Odysseus und Penelope, als Übereckgespräch, als Reiz-
gespräch, läßt das gleiche straff fortschreitende, gesetzmäßig leben-
dige musikalische Gefüge erkennen wie die vorhergehende Weck-
szene mit Eurykleia und Penelope — allerdings erst nach Anstel-
lung jener Operation, von der ich vorher gesprochen habe: nämlich
nach Weglassung jener Digression von V. 117 —172, die, wie wir
13 Über die Bedeutung des ,Reizens‘ bei den Göttern der Ilias vor allem im Hin-
blick auf Ilias 4, 5 ff. K. Reinhardt, ,Von Werken und Formen1, Godesberg
1948, 23.
2 Schadewaldt, Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse