6.
Wenden wir uns wieder zu Ciceros 'Sentenz’, so ist in deren er-
stem Glied „ein gut und nach den Vorschriften der Philosophie ver-
brachter Tag“ ohne weiteres mit Platons als αρετή άπασα bezeichne-
tem und auch dort der peccans immortalitas scharf gegenüberge-
stelltem Höchstwert in Parallele zu setzen, wenn wir bedenken, daß
der Römer im Rahmen seiner Thematik natürlich von Platons spe-
zifischem Gerechtigkeitsideal absehen mußte. Von den Unterschieden
der Struktur wird nachher gehandelt werden müssen; hier geht es
zunächst um das Allgemeine, den Inhalt Betreffende. Geist und Ge-
sinnung sind also auch beim positiven Glied der Antithese in der
Sentenz letztlich platonischem Vorbild nicht fern, und vollends der
damit kontrastierende negative Teil der Aussage - die peccans im-
mortalitas - konnte, wie wir sahen, sogar in seiner eigenartigen
Formulierung, wenn auch in stärkster Konzentration, aus Platon
übernommen werden. Das setzt aber voraus, daß Cicero wußte, was
er übernahm, daß er also wie die anderen antiken Leser der Nomoi-
kapitel auch der Auseinandersetzung mit Tyrtaios folgen konnte1
und sich der von Platon dem αθάνατον είναι gegebenen Deutung be-
wußt war. Daß dem so war, und daß Ciceros Bildung solchem Ver-
ständnis entsprach, brauchen wir nicht zu bezweifeln. Hatte er doch
auch gerade in seinem Tusculum Platons Bildnis ständig vor Au-
gen2. Dann aber ergibt sich für die Interpretation der Sentenz nicht
nur, sondern für ihre beweisende Funktion im Rahmen des ganzen
Hymnus, über die wir uns theoretisch bereits früher klar geworden
sind3, eine völlig neue und sehr bemerkenswerte Perspektive. Mit
einemmal wird nämlich deutlich, was das Enthymema der Quaestio
specialis (II C), im einzelnen und im ganzen, auf den Sprecher Ci-
cero bezogen eigentlich aussagt und als Gipfel der gesamten Argu-
mentatio abschließend bekennt:
Ein Leben, nach den Vorschriften der Philosophie geführt — und
zwar wie wir jetzt wissen im Sinne Platons - hat an die Stelle des
1 Daß Tyrtaios in diesen Jahrzehnten noch gekannt und gelesen wurde, beweist
Horaz a. p. 402 f.
2 Dazu s. ob. S. 29, Anm. 16.
3 Oben S. 20ff. (was auch zum Folgenden nachgeschlagen werden möge.).
Wenden wir uns wieder zu Ciceros 'Sentenz’, so ist in deren er-
stem Glied „ein gut und nach den Vorschriften der Philosophie ver-
brachter Tag“ ohne weiteres mit Platons als αρετή άπασα bezeichne-
tem und auch dort der peccans immortalitas scharf gegenüberge-
stelltem Höchstwert in Parallele zu setzen, wenn wir bedenken, daß
der Römer im Rahmen seiner Thematik natürlich von Platons spe-
zifischem Gerechtigkeitsideal absehen mußte. Von den Unterschieden
der Struktur wird nachher gehandelt werden müssen; hier geht es
zunächst um das Allgemeine, den Inhalt Betreffende. Geist und Ge-
sinnung sind also auch beim positiven Glied der Antithese in der
Sentenz letztlich platonischem Vorbild nicht fern, und vollends der
damit kontrastierende negative Teil der Aussage - die peccans im-
mortalitas - konnte, wie wir sahen, sogar in seiner eigenartigen
Formulierung, wenn auch in stärkster Konzentration, aus Platon
übernommen werden. Das setzt aber voraus, daß Cicero wußte, was
er übernahm, daß er also wie die anderen antiken Leser der Nomoi-
kapitel auch der Auseinandersetzung mit Tyrtaios folgen konnte1
und sich der von Platon dem αθάνατον είναι gegebenen Deutung be-
wußt war. Daß dem so war, und daß Ciceros Bildung solchem Ver-
ständnis entsprach, brauchen wir nicht zu bezweifeln. Hatte er doch
auch gerade in seinem Tusculum Platons Bildnis ständig vor Au-
gen2. Dann aber ergibt sich für die Interpretation der Sentenz nicht
nur, sondern für ihre beweisende Funktion im Rahmen des ganzen
Hymnus, über die wir uns theoretisch bereits früher klar geworden
sind3, eine völlig neue und sehr bemerkenswerte Perspektive. Mit
einemmal wird nämlich deutlich, was das Enthymema der Quaestio
specialis (II C), im einzelnen und im ganzen, auf den Sprecher Ci-
cero bezogen eigentlich aussagt und als Gipfel der gesamten Argu-
mentatio abschließend bekennt:
Ein Leben, nach den Vorschriften der Philosophie geführt — und
zwar wie wir jetzt wissen im Sinne Platons - hat an die Stelle des
1 Daß Tyrtaios in diesen Jahrzehnten noch gekannt und gelesen wurde, beweist
Horaz a. p. 402 f.
2 Dazu s. ob. S. 29, Anm. 16.
3 Oben S. 20ff. (was auch zum Folgenden nachgeschlagen werden möge.).