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Hildebrecht Hommel
Befragen wir nun die als Anregung für Cicero festgestellte Partie
aus Platons Nomoi II nach ihrer Zugehörigkeit zu einem dieser Ty-
pen, so läßt sich gewiß (wie gleich versucht werden soll) aus ihr eine
dem Typus II nah verwandte Antithese gewinnen. Aber es
muß dabei nachdrücklich festgestellt werden, daß ihrem breit und
ausführlich stilisierten Wortlaut so gut wie völlig der Charakter
einer gestrafften Formel fehlt, der aus allen anderen Vertretern des
gleichen Typus ohne weiteres abzulesen ist. Immerhin erhalten wir
leicht als Konzentrat aus Platon, Nomoi II 661 B 2 - E 4 etwa fol-
gendes: 'Bessser eine kurze Zeiteinheit, verbunden mit Gerechtigkeit
(bezw. αρετή απασα), als eine „Unsterblichkeit“13, verbunden mit
αδικία und ύβρις.’
Allerdings findet sich bei Platon, wie wir uns erinnern, einge-
sprengt in den übrigen Kontext, nun doch noch eine dem Formel-
charakter sich annähernde Ausdrucksweise:
Platon, Nomoi II 661 C 1-5
. . . ζην μέγιστον μέν κακόν τον σύμπαντα χρόνον αθάνατον όντα
καί κεκτημένον πάντα τά λεγάμενα αγαθά πλήν δικαιοσύνης τε καί
αρετής άπάσης, ελαττον δέ, αν ώς όλίγιστον δ τοιοΰτος χρόνον
έπιζώη.
Knapp paraphrasiert ergibt das: 'Besser eine möglichst kurz dauernde
„Unsterblichkeit“, wenn sie der Gerechtigkeit (bezw. der αρετή απασα)
entbehrt, als eine lange.’ Diese 'Formel’, wenn wir sie als solche an-
sprechen dürfen, nähert sich dem Typus I, als dessen primitive, fast
ein wenig trivial anmutende Grundstufe man sie bezeichnen könnte,
indem hier der Vorzug der kurzen Zeit vor der langen noch nicht
wie dort in der Intensität des Erlebens, sondern lediglich in der ge-
ringen Quantität begründet ist, die diesen spezifischen Vorzug ver-
dient, da ihr Inhalt als minderwertig erscheint14. Für uns ist diese
29 bereits zitierte Entscheidung des Achill in der Ilias 9, 412 ff. gelten dürfen:
'lieber kurzes Leben mit langem Nachruhm als langes Leben ohne Ruhm’,
wenngleich der Stellenwert des Begriffs 'Unsterblichkeit’ hier ein anderer ist.
13 Das heißt: eine durch den Ruhm der Tapferkeit verlängerte Zeit, wie sich aus
unserer Interpretation oben S. 37 ff. ergab.
14 Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes festzustellen, daß K. Reinhardt, der zu
Ciceros 'Sentenz’ (und ihren Parallelen) keinen rechten Zugang gewann und
sie als „verunglückt“ empfand - letztlich wegen der Unklarheit der peccans
immortalitas -, zunächst einmal fragt „würde einer peccans aeternitas nicht
auch schon ein peccans dies vorzuziehen sein? (RE XXII 817, vgl. a. schon ob.
S. 28 m. Anm. 9). Dagegen hat Wolfg. Schmid, a. O. 18 u. 23 f. mit Recht pro-
Hildebrecht Hommel
Befragen wir nun die als Anregung für Cicero festgestellte Partie
aus Platons Nomoi II nach ihrer Zugehörigkeit zu einem dieser Ty-
pen, so läßt sich gewiß (wie gleich versucht werden soll) aus ihr eine
dem Typus II nah verwandte Antithese gewinnen. Aber es
muß dabei nachdrücklich festgestellt werden, daß ihrem breit und
ausführlich stilisierten Wortlaut so gut wie völlig der Charakter
einer gestrafften Formel fehlt, der aus allen anderen Vertretern des
gleichen Typus ohne weiteres abzulesen ist. Immerhin erhalten wir
leicht als Konzentrat aus Platon, Nomoi II 661 B 2 - E 4 etwa fol-
gendes: 'Bessser eine kurze Zeiteinheit, verbunden mit Gerechtigkeit
(bezw. αρετή απασα), als eine „Unsterblichkeit“13, verbunden mit
αδικία und ύβρις.’
Allerdings findet sich bei Platon, wie wir uns erinnern, einge-
sprengt in den übrigen Kontext, nun doch noch eine dem Formel-
charakter sich annähernde Ausdrucksweise:
Platon, Nomoi II 661 C 1-5
. . . ζην μέγιστον μέν κακόν τον σύμπαντα χρόνον αθάνατον όντα
καί κεκτημένον πάντα τά λεγάμενα αγαθά πλήν δικαιοσύνης τε καί
αρετής άπάσης, ελαττον δέ, αν ώς όλίγιστον δ τοιοΰτος χρόνον
έπιζώη.
Knapp paraphrasiert ergibt das: 'Besser eine möglichst kurz dauernde
„Unsterblichkeit“, wenn sie der Gerechtigkeit (bezw. der αρετή απασα)
entbehrt, als eine lange.’ Diese 'Formel’, wenn wir sie als solche an-
sprechen dürfen, nähert sich dem Typus I, als dessen primitive, fast
ein wenig trivial anmutende Grundstufe man sie bezeichnen könnte,
indem hier der Vorzug der kurzen Zeit vor der langen noch nicht
wie dort in der Intensität des Erlebens, sondern lediglich in der ge-
ringen Quantität begründet ist, die diesen spezifischen Vorzug ver-
dient, da ihr Inhalt als minderwertig erscheint14. Für uns ist diese
29 bereits zitierte Entscheidung des Achill in der Ilias 9, 412 ff. gelten dürfen:
'lieber kurzes Leben mit langem Nachruhm als langes Leben ohne Ruhm’,
wenngleich der Stellenwert des Begriffs 'Unsterblichkeit’ hier ein anderer ist.
13 Das heißt: eine durch den Ruhm der Tapferkeit verlängerte Zeit, wie sich aus
unserer Interpretation oben S. 37 ff. ergab.
14 Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes festzustellen, daß K. Reinhardt, der zu
Ciceros 'Sentenz’ (und ihren Parallelen) keinen rechten Zugang gewann und
sie als „verunglückt“ empfand - letztlich wegen der Unklarheit der peccans
immortalitas -, zunächst einmal fragt „würde einer peccans aeternitas nicht
auch schon ein peccans dies vorzuziehen sein? (RE XXII 817, vgl. a. schon ob.
S. 28 m. Anm. 9). Dagegen hat Wolfg. Schmid, a. O. 18 u. 23 f. mit Recht pro-