8.
Wir wenden uns zum Schluß nocheinmal zu Ciceros Hymnus im
ganzen, der freilich von der eingefügten 'Sentenz’ sein besonderes
Gepräge erhält, und zu der eingangs gestellten Frage nach dem reli-
giösen Charakter des eigenartigen Gebildes. Aus vielerlei Anregun-
gen und Bildungsreminiszenzen hat Cicero ein kostbares Stück Klein-
kunst geschaffen, das uns durch den Reichtum der Assoziationen
und ihre geschmackvolle Zusammenfügung zu einem neuen Ganzen
gleichsam ein Miniaturbild dessen gibt, was ihm mit seinem Lebens-
werk im Großen exemplarisch darzustellen gelang. Hinzu tritt je-
doch auch hier der Bekenntnischarakter der Aussage, und da es sich
um einen zwar rhetorisch stilisierten und mit rednerischer Argumen-
tation durchsetzten, aber dabei doch in seinem Charakter treu be-
wahrten Gebetshymnus handelt, so ist der religiöse Grundakkord
von vornherein nicht zu verkennen. Er klingt schon in den voran-
gehenden Betrachtungen des Prooimions an, die zwar zunächst (§ 1
und 2) im Rühmen der Philosophie als Wegweiserin zur Tugend und
damit zu einem glücklichen Leben als höchstem Gut sich auf den
üblichen, kaum als religiös anzusprechenden Pfaden bewegen. Aber
sobald dann im folgenden (§ 3-5 Anfg.) die Sprache des am Leben
Leidenden auf die ihm zugefügten Schicksalsschläge, auf die Gebre-
chen Leibes und der Seele kommt, die alle anstatt zur Glückseligkeit
vielmehr zu Angst und Trauer führen, da verliert auch die Tugend
ihre beseligende Kraft1, und die Philosophie erhebt sich plötzlich
über den Rang eines mechanischen Vehikels zur Rechtschaffenheit
hinaus und läßt das altvertraute Klischee weit hinter sich. Sie wird
dem Verzweifelnden, der spürt, es bedürfe einer höheren Instanz
zu seiner Rettung, mit einemmal zur erhabenen Göttin Philosophia,
an die er sich in Hymnus und Gebet \vendet, an deren Altar er schutz-
flehend Hilfe sucht, deren Walten im Leben des Menschen schlecht-
hin wie in seinem eigenen er sich argumentierend vor Augen führt,
und von der ihm nun wirklich im Gebet neue Kräfte zuströmen, so-
1 Das gibt denn auch nach Beendigung des Prooimions das Thema für das nachfol-
gende Gespräch dieses Tages ab (§ 12): non mihi videtur ad beate vivendum
satis posse virtutem.
Wir wenden uns zum Schluß nocheinmal zu Ciceros Hymnus im
ganzen, der freilich von der eingefügten 'Sentenz’ sein besonderes
Gepräge erhält, und zu der eingangs gestellten Frage nach dem reli-
giösen Charakter des eigenartigen Gebildes. Aus vielerlei Anregun-
gen und Bildungsreminiszenzen hat Cicero ein kostbares Stück Klein-
kunst geschaffen, das uns durch den Reichtum der Assoziationen
und ihre geschmackvolle Zusammenfügung zu einem neuen Ganzen
gleichsam ein Miniaturbild dessen gibt, was ihm mit seinem Lebens-
werk im Großen exemplarisch darzustellen gelang. Hinzu tritt je-
doch auch hier der Bekenntnischarakter der Aussage, und da es sich
um einen zwar rhetorisch stilisierten und mit rednerischer Argumen-
tation durchsetzten, aber dabei doch in seinem Charakter treu be-
wahrten Gebetshymnus handelt, so ist der religiöse Grundakkord
von vornherein nicht zu verkennen. Er klingt schon in den voran-
gehenden Betrachtungen des Prooimions an, die zwar zunächst (§ 1
und 2) im Rühmen der Philosophie als Wegweiserin zur Tugend und
damit zu einem glücklichen Leben als höchstem Gut sich auf den
üblichen, kaum als religiös anzusprechenden Pfaden bewegen. Aber
sobald dann im folgenden (§ 3-5 Anfg.) die Sprache des am Leben
Leidenden auf die ihm zugefügten Schicksalsschläge, auf die Gebre-
chen Leibes und der Seele kommt, die alle anstatt zur Glückseligkeit
vielmehr zu Angst und Trauer führen, da verliert auch die Tugend
ihre beseligende Kraft1, und die Philosophie erhebt sich plötzlich
über den Rang eines mechanischen Vehikels zur Rechtschaffenheit
hinaus und läßt das altvertraute Klischee weit hinter sich. Sie wird
dem Verzweifelnden, der spürt, es bedürfe einer höheren Instanz
zu seiner Rettung, mit einemmal zur erhabenen Göttin Philosophia,
an die er sich in Hymnus und Gebet \vendet, an deren Altar er schutz-
flehend Hilfe sucht, deren Walten im Leben des Menschen schlecht-
hin wie in seinem eigenen er sich argumentierend vor Augen führt,
und von der ihm nun wirklich im Gebet neue Kräfte zuströmen, so-
1 Das gibt denn auch nach Beendigung des Prooimions das Thema für das nachfol-
gende Gespräch dieses Tages ab (§ 12): non mihi videtur ad beate vivendum
satis posse virtutem.