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Köhler, Erich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1968, 4. Abhandlung): "Conseil des barons" und "jugement des barons": epische Fatalität und Feudalrecht im altfranzösischen Rolandslied ; vorgetragen am 29. 6. 1968 — Heidelberg, 1968

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https://doi.org/10.11588/diglit.44217#0036
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Erich Köhler

tischer Unglaubwürdigkeit kann sie nur bewahrt werden, wenn alle
ihre konstitutiven Elemente sich als Aspekte des Wesens darstellen
und zum Ausdruck einer Notwendigkeit hin konvergieren. Genau
dies scheint uns in der «freien Erfindung» unseres Dichters der Fall
zu sein.
Um diese These zu stützen, gehen wir von der Frage aus: welche
Absicht verfolgt der Dichter, indem er in der Wirklichkeit Getrenn-
tes und durchaus Verschiedenes, nämlich conseil des barons und
jugement des barons, zu einer einzigen rechtlichen Institution ver-
band? Eine erste Antwort ergibt sich zwingend aus dem, was wir
oben festgestellt haben: der Dichter wollte den dramatischen Kon-
flikt und seine Folgen nicht als Ergebnis einer zufälligen Konstella-
tion und persönlicher Spannungen allein hinstellen. Das Unheil,
das aus der Ratsversammlung hervorgeht — aus jenem cunseil que
mal prist - soll sich vielmehr dadurch als ein unabänderliches erwei-
sen, daß es aus einem unumstößlichen Urteil, einem absolut ver-
bindlichen Rechts verfahren entsteht. Und weiter: das Recht selbst
soll an den fatalen Folgen, die seine Anwendung haben kann, den
widersprüchlichen Charakter offenbaren, der seinen Mißbrauch er-
möglicht. Aber, so mag hier eingewendet werden, der Dichter hat
nirgends die Gültigkeit dieses Rechts in Frage gestellt, er scheint es
vielmehr zu bejahen. Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir die
Gründe für die zweideutige Rolle Charlemagnes erkannt haben.
Unter den Voraussetzungen, welche die oben herausgestellte
Kühnheit der Erfindung des Rolanddichters legitimieren, ist die po-
litische Machtlosigkeit der frühen kapetingischen Könige wohl die
wichtigste. Die Unterwerfung des conseil unter die Regeln des juge-
ment des barons materialisiert auf der Ebene der Dichtung die po-
litische Bedeutungslosigkeit der curia regis des 11. Jahrhunderts'8.
Es ist kein Zufall, daß sie nur von einigen der ältesten Chansons
de geste übernommen wird, während die späteren Epen conseil und
jugement wieder auseinanderhalten und damit den zu Beginn der
zweiten feudalen Epoche (Mitte des 12. Jahrhunderts) entschieden
und sichtbar zugunsten des Königtums veränderten Machtverhält-
nissen Rechnung tragen78 79. Der Charlemagne des Rolandslieds trägt
78 Vgl. B. C. Keeney, a. a. 0., S. 13: «The early Capetians were so pitifully weak
that they were unable to cause much inconvenience to their great feudatories,
in court or out. The composition of their curia was of little interest to anybody
outside the royal domain».
79 Außer im Rolandslied ist das «jugement des barons» als politisch wichtige
 
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