36
Hellmut Flashar
Geschehens und dessen Ende. Der Epitaphios zeigt also nach außen
hin das offizielle Bild eines heilen Staatswesens, bevor dieses Bild
zu zerfallen beginnt, - vergleichbar dem Ausgangspunkt einer Tra-
gödie69.
Beziehen wir die übrigen Perildesreden in den Kreis der Betrach-
tung ein, so fügen sie sich dem Bilde des Epitaphios als einer Demon-
stration der Macht Athens zwanglos und widerspruchsfrei ein. Nur
ein Unterschied ist sofort deutlich: Sowohl die erste als auch die
letzte Perikiesrede ist durchzogen von dem Gegensatz zwischen Peri-
kies und der wankelmütigen Menge, während im Epitaphios eine
derartige Diskrepanz nicht im entferntesten auch nur angedeutet
wird. Dabei ist dieser Gegensatz in der letzten Perikiesrede der
ersten gegenüber erheblich verstärkt, weil inzwischen das Herein-
brechen der Pest die von Perikies in der ersten Rede nur befürchtete
Reaktion (I 140) hat Wirklichkeit werden lassen. Entsprechend ist
die Kluft in der letzten Rede tiefer, sind die Versuche des Perikies,
sie zu überbrücken, verzweifelter. Und wenn Thukydides anschlie-
ßend (II 65, 4) das Hin und Her des Volkes, das Perikies bald mit
einer Strafe belegt, bald wieder zum Strategen wählt, mit dem Zu-
satz versieht: „wie es die Menge zu machen pflegt“ (ojisq cpiXei opiXog
jtotelv), so kann er unmöglich gleichzeitig der Meinung sein, eben
die gleichen athenischen Bürger lebten vollkommen frei von Ver-
dächtigungen gegeneinander (II 37, 2). Der Schlüssel zur Erklärung
dieser Diskrepanz liegt in der unmittelbar auf die letzte Perikiesrede
folgenden Bemerkung, die Athener würden insgesamt gleichsam
„offiziell“ (ör]po(jlq) den Worten des Perikies folgen, einzeln aber
(’töiq) über das, was ihnen zugestoßen war, betrübt sein (II 65, 2).
Der Epitaphios ist in diesem Sinne das Zeugnis der ,offiziellen Über-
einstimmung zwischen Ideologie und Realität. Thukydides wollte
an dieser Stelle das ,offizielle' Bild des athenischen Staates zeichnen,
das dann in der anschließenden Pestschilderung zu zerfallen be-
ginnt. Dieser Zerfallsprozeß stellt sich aber dar als eine durch die
Stunde der Not erzwungene Entlarvung des wahren Wesens der sich
im Grunde gleichbleibenden Menschennatur, das der Epitaphien-
redner durch schöne Worte zu verbrämen versucht.
69 Vgl. K. Reinhardt, a. 0. 215, der mit aller gebotenen Vorsicht das Dramatische
in der Geschichtsschreibung des Thukydides hervorhebt und zur Pestschilderung
treffend bemerkt: „Der wahre Grund, weshalb die Pest an diesem Ort ... er-
zählt wird, ist nicht der Gedanke der Belehrung . . ., sondern das unter der
Chronikform versteckte ,incipit tragoedia“.“
Hellmut Flashar
Geschehens und dessen Ende. Der Epitaphios zeigt also nach außen
hin das offizielle Bild eines heilen Staatswesens, bevor dieses Bild
zu zerfallen beginnt, - vergleichbar dem Ausgangspunkt einer Tra-
gödie69.
Beziehen wir die übrigen Perildesreden in den Kreis der Betrach-
tung ein, so fügen sie sich dem Bilde des Epitaphios als einer Demon-
stration der Macht Athens zwanglos und widerspruchsfrei ein. Nur
ein Unterschied ist sofort deutlich: Sowohl die erste als auch die
letzte Perikiesrede ist durchzogen von dem Gegensatz zwischen Peri-
kies und der wankelmütigen Menge, während im Epitaphios eine
derartige Diskrepanz nicht im entferntesten auch nur angedeutet
wird. Dabei ist dieser Gegensatz in der letzten Perikiesrede der
ersten gegenüber erheblich verstärkt, weil inzwischen das Herein-
brechen der Pest die von Perikies in der ersten Rede nur befürchtete
Reaktion (I 140) hat Wirklichkeit werden lassen. Entsprechend ist
die Kluft in der letzten Rede tiefer, sind die Versuche des Perikies,
sie zu überbrücken, verzweifelter. Und wenn Thukydides anschlie-
ßend (II 65, 4) das Hin und Her des Volkes, das Perikies bald mit
einer Strafe belegt, bald wieder zum Strategen wählt, mit dem Zu-
satz versieht: „wie es die Menge zu machen pflegt“ (ojisq cpiXei opiXog
jtotelv), so kann er unmöglich gleichzeitig der Meinung sein, eben
die gleichen athenischen Bürger lebten vollkommen frei von Ver-
dächtigungen gegeneinander (II 37, 2). Der Schlüssel zur Erklärung
dieser Diskrepanz liegt in der unmittelbar auf die letzte Perikiesrede
folgenden Bemerkung, die Athener würden insgesamt gleichsam
„offiziell“ (ör]po(jlq) den Worten des Perikies folgen, einzeln aber
(’töiq) über das, was ihnen zugestoßen war, betrübt sein (II 65, 2).
Der Epitaphios ist in diesem Sinne das Zeugnis der ,offiziellen Über-
einstimmung zwischen Ideologie und Realität. Thukydides wollte
an dieser Stelle das ,offizielle' Bild des athenischen Staates zeichnen,
das dann in der anschließenden Pestschilderung zu zerfallen be-
ginnt. Dieser Zerfallsprozeß stellt sich aber dar als eine durch die
Stunde der Not erzwungene Entlarvung des wahren Wesens der sich
im Grunde gleichbleibenden Menschennatur, das der Epitaphien-
redner durch schöne Worte zu verbrämen versucht.
69 Vgl. K. Reinhardt, a. 0. 215, der mit aller gebotenen Vorsicht das Dramatische
in der Geschichtsschreibung des Thukydides hervorhebt und zur Pestschilderung
treffend bemerkt: „Der wahre Grund, weshalb die Pest an diesem Ort ... er-
zählt wird, ist nicht der Gedanke der Belehrung . . ., sondern das unter der
Chronikform versteckte ,incipit tragoedia“.“