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Hans Gerhard Senger
deutet sie auf seine Zeit.9 Die so artikulierte »Verfallstheorie«, derge-
mäß ein Verfallsprozeß in dem reformbedürftigen, aber desungeachtet
nicht reformierten, desolaten Kirchenzustand statthat, der auf ein bal-
diges Eintreten des prophezeiten Endes mit allen seinen Indikatoren
hindeutet, wird also mit Augustinus autorisiert.10
Niemand aber weiß genau zu sagen, wann das Ende kommen wird
(»qui finis, quamdiu aberit, ignoratur«). Er folgt auch Augustinus in
der Ausdeutung des Bibelwortes »videbitis filium hominis venientem
in nubibus (Matth. 26,64)«, das jener nicht so sehr in seiner ober-
flächlichen Bedeutung als vielmehr in seiner tieferen Durchdringung
(»non in superficie litterae sed subtiliori penetratione«) verstehen will.
In diesem Sinne kann Nikolaus allerdings von der Ankunft Christi in
seiner Kirche schon jetzt reden.11 Überhaupt gelten viele Christus-
Worte, wenngleich zu den Jüngern und Aposteln bzw. zu Petrus ge-
sprochen, erst einer späteren Zeit. Auch diesen Nachweis führt Niko-
laus mit der Autorität des Augustinus.
Wie die meisten glaubt Nikolaus, daß vor dem Ende der Zeiten erst
gewisse Bedingungen erfüllt sein müssen. So muß z. B. die Kirche Chri-
sti erst wahrhaft katholisch, d. h. allumfassend und über die ganze (da-
mals bekannte) Welt verbreitet sein. Vor dem Ende erscheint der Anti-
christ und bringt die Kirche in Bedrängnis. Ferner muß das Römerreich,
das nach damaligem Selbstverständnis in dem Heiligen Römischen
Reich Deutscher Nation weiterexistierte, zerstört werden. In der ge-
schichtlichen Situation seiner Zeit sah Nikolaus wie viele mit ihm man-
che dieser Zeichen erfüllt. Dennoch glaubte er nicht, daß das Ende schon
bald bevorsteht.12 Andererseits heißt es in Buch II, daß die Welt sich
ihrem Ende zuneigt.13 Beide Aussagen stehen aber nicht in Widerspruch
zueinander. Nach der geschichtstheologischen Vorstellung, die Niko-
laus von den Lebensaltern der Welt schon wenige Jahre später in einem
Predigtentwurf fixiert, ist der größte Teil der Zeit bereits abgelaufen.
Insofern kann er von der Zeit, die sich ihrem Ende nähert, die sich
aufzehrt, sprechen. In welcher Weise das zu verstehen ist, wird un-
9 De fine saeculi VIII 23, p. 264; De conc.cath. I 3 n. 14.
10 Zu diesem Phänomen s. H. Jedin in: Trierer Theol. Zeitschrift 64 (1955) 17.
11 De conc. cath. I 12 n. 54.
12 »Tarnen licet persecutio et multa de hiis malis, quae praecedere debent, hodie
videantur, scimus tarnen, quod nondum statim finis, licet sint signa finis.« De
conc. cath. I 12 n. 53,23-26. Vgl. auch Sermo XVIII n. 3 (Zählung nach R.
Haubst; nach J. Koch Sermo VII) aus den Jahren 1432-1437.
13 »nunc maxime mundo ad finem tendente« De conc. cath. II17 n. 148,2.
Hans Gerhard Senger
deutet sie auf seine Zeit.9 Die so artikulierte »Verfallstheorie«, derge-
mäß ein Verfallsprozeß in dem reformbedürftigen, aber desungeachtet
nicht reformierten, desolaten Kirchenzustand statthat, der auf ein bal-
diges Eintreten des prophezeiten Endes mit allen seinen Indikatoren
hindeutet, wird also mit Augustinus autorisiert.10
Niemand aber weiß genau zu sagen, wann das Ende kommen wird
(»qui finis, quamdiu aberit, ignoratur«). Er folgt auch Augustinus in
der Ausdeutung des Bibelwortes »videbitis filium hominis venientem
in nubibus (Matth. 26,64)«, das jener nicht so sehr in seiner ober-
flächlichen Bedeutung als vielmehr in seiner tieferen Durchdringung
(»non in superficie litterae sed subtiliori penetratione«) verstehen will.
In diesem Sinne kann Nikolaus allerdings von der Ankunft Christi in
seiner Kirche schon jetzt reden.11 Überhaupt gelten viele Christus-
Worte, wenngleich zu den Jüngern und Aposteln bzw. zu Petrus ge-
sprochen, erst einer späteren Zeit. Auch diesen Nachweis führt Niko-
laus mit der Autorität des Augustinus.
Wie die meisten glaubt Nikolaus, daß vor dem Ende der Zeiten erst
gewisse Bedingungen erfüllt sein müssen. So muß z. B. die Kirche Chri-
sti erst wahrhaft katholisch, d. h. allumfassend und über die ganze (da-
mals bekannte) Welt verbreitet sein. Vor dem Ende erscheint der Anti-
christ und bringt die Kirche in Bedrängnis. Ferner muß das Römerreich,
das nach damaligem Selbstverständnis in dem Heiligen Römischen
Reich Deutscher Nation weiterexistierte, zerstört werden. In der ge-
schichtlichen Situation seiner Zeit sah Nikolaus wie viele mit ihm man-
che dieser Zeichen erfüllt. Dennoch glaubte er nicht, daß das Ende schon
bald bevorsteht.12 Andererseits heißt es in Buch II, daß die Welt sich
ihrem Ende zuneigt.13 Beide Aussagen stehen aber nicht in Widerspruch
zueinander. Nach der geschichtstheologischen Vorstellung, die Niko-
laus von den Lebensaltern der Welt schon wenige Jahre später in einem
Predigtentwurf fixiert, ist der größte Teil der Zeit bereits abgelaufen.
Insofern kann er von der Zeit, die sich ihrem Ende nähert, die sich
aufzehrt, sprechen. In welcher Weise das zu verstehen ist, wird un-
9 De fine saeculi VIII 23, p. 264; De conc.cath. I 3 n. 14.
10 Zu diesem Phänomen s. H. Jedin in: Trierer Theol. Zeitschrift 64 (1955) 17.
11 De conc. cath. I 12 n. 54.
12 »Tarnen licet persecutio et multa de hiis malis, quae praecedere debent, hodie
videantur, scimus tarnen, quod nondum statim finis, licet sint signa finis.« De
conc. cath. I 12 n. 53,23-26. Vgl. auch Sermo XVIII n. 3 (Zählung nach R.
Haubst; nach J. Koch Sermo VII) aus den Jahren 1432-1437.
13 »nunc maxime mundo ad finem tendente« De conc. cath. II17 n. 148,2.