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Henrich, Dieter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 1. Abhandlung): Identität und Objektivität: eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion ; vorgetragen am 9. November 1974 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45458#0019
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I. SCHWIERIGKEITEN DER KANTINTERPRETATION
Wir wissen noch nicht, wie philosophische Texte zu interpretieren sind.
Je bedeutender die Leistung eines Klassikers der philosophischen
Theorie ist, je tiefer die Veränderungen reichen, denen seine Unter-
suchungen den überlieferten Theoriebestand unterzogen, je allgemeiner
und somit integrativer sein Grundkonzept war, um so weniger konnte
er selber Meister dieses Konzeptes sein. Innovationen in der Theorie
verlangen jeweils eine neue theoretische Sprache. Die Zusammenhänge,
die in ihr aufgewiesen werden, dienen dazu, Probleme zu lösen, die
innerhalb des gemeinsamen Horizontes aller überkommenen Theorien
unlösbar bleiben mußten. Kritische Konsequenzen und theoriebildende
Aussichten, welche sich aus solchen Zusammenhängen ergeben, lassen
sich früh überblicken. Nie aber kann zu Beginn schon der neu ent-
deckte Zusammenhang in sich selbst hinreichend deutlich gemacht
werden. Zu begreifen, was ihn konstituiert, welche Elemente also
in ihm auf welche Weise zusammentreten, wird zu einer neuen Pro-
blemstellung für das Denken. Der Entdecker kann nicht sogleich über
eine befriedigende Antwort auf sie verfügen. Bestenfalls wird er ihr
mit der lebenslangen Beharrlichkeit nachgehen, mit der Platon das
Wesen der Ideen zu bestimmen suchte, die er doch selber in die
Philosophie eingeführt hatte. Die Theorie und ihre neue Sprache
stehen nicht in dem Licht, das von ihnen auf die Fragen fällt, die sie
beantworten wollen.
Wir haben also damit zu rechnen, daß in den klassischen Texten
der Philosophie die wichtigsten, weil letztlich begründenden Gedan-
ken- und Argumentgänge die größten Schwierigkeiten bereiten, —
primär gar nicht wegen der Schwierigkeit der Sache und gewiß auch
nicht, weil Entdecker von theoretischen Möglichkeiten philosophische
Heroen von inkommensurabler Einsicht und Intelligenz sind, sondern
wegen der inneren Verfassung dieser Texte selbst.
Bisher gibt es drei Verfahren der Kommentierung, — den para-
phrasierend-erläuternden und den genetischen Kommentar, sowie die
argumentierende Rekonstruktion. In der Erläuterung wird der Text-
bestand eines ganzen Oeuvres zur Deutung seiner zentralen Partien
aufgeboten. Der genetische Kommentar vermittelt die Perspektive
 
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