Metadaten

Henrich, Dieter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 1. Abhandlung): Identität und Objektivität: eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion ; vorgetragen am 9. November 1974 — Heidelberg: Winter, 1976

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.45458#0022
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
12

Dieter Henrich

Schon die Interpretationsform der Rekonstruktion muß sich häufig der
Darstellungsform bedienen, die seit Aristoteles für logische Abhängig-
keiten entwickelt worden sind. In ihr lassen sich aber bloße Verwandt-
schaftsverhältnisse von Themen und Theoremen nicht darstellen. Und
sie erlaubt es nicht, Grade der Konsequenzfähigkeit implizit geblie-
bener Gedanken zu unterscheiden. Es hätte deshalb, so merkwürdig es
auch klingen mag, einen guten Sinn, zur Unterstützung von verbalen
Interpretationen ein neues Notationssystem zu entwickeln. Dies Sy-
stem sollte die Vorteile des bestehenden Notationssystems für logische
Abhängigkeiten mit anderen Elementen verbinden, zu denen das be-
stehende Notationssystem der Musik am ehesten parallel steht: Nota-
tionen für die Assoziierbarkeit von Gedanken zu ein und demselben
Satz.
Solche Überlegungen mögen verständlich machen, warum unsere
Fähigkeit zur Interpretation der Grundtexte von Kants kritischer
Philosophie noch immer weit hinter allen berechtigten Erwartungen
zurückbleibt, — ein Viertel Jahrtausend nach seiner Geburt, bald zwei-
hundert Jahre nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft
und trotz nie unterbrochener Kontinuität der Arbeit an seinem Werk.
Kant selbst hat stets beklagt, daß er außerstande war, die Dunkel-
heiten in den grundlegenden Passagen seiner theoretischen Philosophie
zu beheben. Zunächst meinte er, durch die Anstrengung eines Jahr-
zehnts zu voller Aufklärung gelangen zu können. Dann glaubte er, für
die zweite Auflage seiner Kritik einen leichteren und zugänglicheren
Weg der Darstellung gefunden zu haben, der die Notwendigkeit zu
tiefsinnigen Untersuchungen über die letzten Prinzipien des Systems
auf ein Minimum reduziert. Schließlich empfahl er, die Überzeugungs-
kraft der Kritik nicht aus Untersuchungen, die ihrer Grundlegung
dienen, sondern aus deren Anwendung in der Theorie der Natur-
wissenschaft und der Moral und in der umfassenden Diagnose der
Mängel der Lehrgebäude der Metaphysik zu gewinnen. Die <Apices>
der transzendentalen Deduktion und der <Kritik des Subjekts», auf
denen sie beruhen, fand er nicht nur zu anstrengend für seine im
höheren Alter erlahmte Denkkraft, sondern auch gefährlich für jeden,
der sich etwa einzig oder auch nur vorzüglich auf sie einläßt. Kontrol-
liert er sich nicht durch die Konsequenzen, so kann er beinahe in jeder
Richtung getrieben werden und schnell die Orientierung über den
ganzen Zusammenhang des uns möglichen Wissens verlieren. Solche
Warnungen, die Kant auch direkt an seine bedeutendsten Schüler,
an Reinhold und Fichte adressierte, waren natürlich in den Wind
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften