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Henrich, Dieter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 1. Abhandlung): Identität und Objektivität: eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion ; vorgetragen am 9. November 1974 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45458#0035
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Identität und Objektivität

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3.1. Der Objektivitätsanspruch des Urteils
Am deutlichsten geht aus den Texten und besonders aus der zweiten
Auflage der <Kritik der reinen Vernunfb hervor, daß Kant, wenn er
von Objektivität im Zusammenhang mit dem Urteil spricht, den
Geltungsanspruch des Urteils im Auge hat. Jeder Satz kann behauptet
werden. Es besteht dann der Anspruch, daß er wahr, und das heißt, von
Vorstellungen nach bloßem Zufall oder Belieben unterschieden sei.
Dann müssen sich aber auch Kriterien angeben lassen, nach denen zu
entscheiden ist, ob eine Behauptung den Wahrheitsanspruch zu Recht
erhebt. Nur mit Beziehung auf solche Kriterien gewinnt nämlich die
Unterscheidung von Behauptung und bloßer Assoziation beliebiger
Gedanken einen Sinn, nur so läßt sich das Spezifische eines Urteils,
in dem mehrere Termini zur Verwendung kommen, von der gleich-
zeitigen Vorstellung der Bedeutung dieser Termini unterscheiden, die
aus irgendeinem Anlaß ohne jede Implikation einer Verpflichtung auf
Richtigkeit erfolgen kann. Kant faßt diesen Sachverhalt terminolo-
gisch, wenn er sagt, die Form des Urteils schließe ein, daß sich die bloß
subjektive von einer objektiven Einheit unserer Vorstellungen unter-
scheiden läßt (B 139 ff., 5934). «Darauf zielt das Verhältniswörtchen
<ist> . . ., um die objektive Einheit gegebener Vorstellungen von der
subjektiven zu unterscheiden» (B 142).
Die Bedeutung von <objektiv>, die in solchen Sätzen verwendet
wird, könnte der des Prädikates <objektiv> entsprechen, das für eine
Erkenntnis gilt, die im methodischen Ausschluß jener Vorstellungen,
die <bloße> Vorstellungen sind, solche wirklichen Objekte erfaßt, die
in einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zur Gegebenheit kom-
men. Würde sich dieser Anschein bestätigen, so wäre aus der Analyse
des Unterschieds zwischen Vorstellungskombination und Urteilssinn
auch schon die Notwendigkeit der Beziehung aller Erkenntnis auf
komplex charakterisierbare Objekte gesichert. Aus einer einfachen
Überlegung ergibt sich aber, daß Kants epistemologischer Objekt-
begriff nicht auf diese Weise unmittelbar aus der Urteilsdefinition zu
gewinnen ist. Denn alle Aussagen, gleich welcher Art, erheben den
Anspruch, objektive statt bloß subjektive Einheit von Vorstellungen
oder Begriffen zu sein. So sind etvza Aussagen über logische Verhält-
nisse von Sätzen, in denen gar nicht auf Objekte der Erfahrung Bezug
genommen wird, ebenso wie Aussagen, die einzelne, undifferenzierte
sinnliche Präsentationen charakterisieren, allesamt Urteile, die gültig
und in diesem Sinne objektiv zu sein prätendieren. Ihre Ansprüche
 
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