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Dieter Henrich
bracht werden muß. Wollte man die Schwierigkeiten beseitigen, mit
denen Kant im Versuch zu einer theoretischen Interpretation der
Wahrnehmungen zu kämpfen hat, so müßte man eine neue umfang-
reiche Untersuchung in Gang bringen. Im gegenwärtigen Zusammen-
hang kommt sie nicht in Betracht.
Doch läßt sich schon absehen, daß die Unterscheidung verschiedener
Argumente in einer transzendentalen Deduktion für eine solche Theo-
rie wichtige Grundlagen bietet. Ist nämlich die Wahrnehmung das
Produkt der Synthesis vor allem Bewußtsein, so ergeben sich aus der
Notwendigkeit, daß geregelter Übergang zwischen Bewußtseinszu-
ständen möglich sein muß, auch Folgerungen hinsichtlich gewisser
Grundstrukturen, die alle Wahrnehmungen aufweisen müssen. Zum
einen müssen sie so beschaffen sein, daß ein Übergang von Wahrneh-
mung zu Wahrnehmung jederzeit möglich ist. Da Wahrnehmungen
aber in sich Einheit mannigfaltiger Gegebenheiten sind, so folgt weiter,
daß es auch möglich sein muß, von jedem in der Wahrnehmung
präsenten Element zu jedem anderen in einer Weise überzugehen,
welche denselben Regeln unterliegt wie der Übergang von Wahr-
nehmung zu Wahrnehmung. Denn das Selbstbewußtsein muß imstande
sein, in bewußten Vorstellungen vereinigte Mannigfaltigkeit als solche
zu erkennen, also die Elemente des Mannigfaltigen für sich vor-
zustellen und somit auch von je einem zu je anderem von ihnen zu
prozedieren. Die Konsequenzen, die sich aus der Notwendigkeit, daß
Übergang möglich sein muß, für die Struktur der Wahrnehmung er-
geben, schließen nicht ein, daß der Prozeß der Formierung von Wahr-
nehmungen mit dem Prozeß des geregelten Übergangs im Bewußtsein
identisch oder auch nur strukturgleich sein muß. Wahrnehmungen
mögen auf eine Weise Zustandekommen, die sich von der Weise, in der
bewußte Übergänge zwischen Vorstellungszuständen im Subjekt er-
folgen, ganz oder weitgehend unterscheiden. Das Selbstbewußtsein
als Identitätsprinzip für Übergänge verlangt nur, daß die Struktur
von Wahrnehmungen von der Art ist, daß sie eine Rekonstruktion
erlauben, welche sich in einer Sequenz von Bewußtseinszuständen
eines Subjektes vollzieht. Von einer Wahrnehmungstheorie, die ein-
leuchten soll, wird aber genau dies verlangt: daß sie besondere Pro-
zesse der Konstitution von Wahrnehmungen zuläßt und daß sie den-
noch diese Prozesse unter allgemeine Bedingungen der Möglichkeit
höherer Diskurs- und Synthesisformen stellt47. Die ausgearbeitete und
47 Vgl. Jean Piaget, <Les Mecanismes perceptifs>, Paris 1961.
Dieter Henrich
bracht werden muß. Wollte man die Schwierigkeiten beseitigen, mit
denen Kant im Versuch zu einer theoretischen Interpretation der
Wahrnehmungen zu kämpfen hat, so müßte man eine neue umfang-
reiche Untersuchung in Gang bringen. Im gegenwärtigen Zusammen-
hang kommt sie nicht in Betracht.
Doch läßt sich schon absehen, daß die Unterscheidung verschiedener
Argumente in einer transzendentalen Deduktion für eine solche Theo-
rie wichtige Grundlagen bietet. Ist nämlich die Wahrnehmung das
Produkt der Synthesis vor allem Bewußtsein, so ergeben sich aus der
Notwendigkeit, daß geregelter Übergang zwischen Bewußtseinszu-
ständen möglich sein muß, auch Folgerungen hinsichtlich gewisser
Grundstrukturen, die alle Wahrnehmungen aufweisen müssen. Zum
einen müssen sie so beschaffen sein, daß ein Übergang von Wahrneh-
mung zu Wahrnehmung jederzeit möglich ist. Da Wahrnehmungen
aber in sich Einheit mannigfaltiger Gegebenheiten sind, so folgt weiter,
daß es auch möglich sein muß, von jedem in der Wahrnehmung
präsenten Element zu jedem anderen in einer Weise überzugehen,
welche denselben Regeln unterliegt wie der Übergang von Wahr-
nehmung zu Wahrnehmung. Denn das Selbstbewußtsein muß imstande
sein, in bewußten Vorstellungen vereinigte Mannigfaltigkeit als solche
zu erkennen, also die Elemente des Mannigfaltigen für sich vor-
zustellen und somit auch von je einem zu je anderem von ihnen zu
prozedieren. Die Konsequenzen, die sich aus der Notwendigkeit, daß
Übergang möglich sein muß, für die Struktur der Wahrnehmung er-
geben, schließen nicht ein, daß der Prozeß der Formierung von Wahr-
nehmungen mit dem Prozeß des geregelten Übergangs im Bewußtsein
identisch oder auch nur strukturgleich sein muß. Wahrnehmungen
mögen auf eine Weise Zustandekommen, die sich von der Weise, in der
bewußte Übergänge zwischen Vorstellungszuständen im Subjekt er-
folgen, ganz oder weitgehend unterscheiden. Das Selbstbewußtsein
als Identitätsprinzip für Übergänge verlangt nur, daß die Struktur
von Wahrnehmungen von der Art ist, daß sie eine Rekonstruktion
erlauben, welche sich in einer Sequenz von Bewußtseinszuständen
eines Subjektes vollzieht. Von einer Wahrnehmungstheorie, die ein-
leuchten soll, wird aber genau dies verlangt: daß sie besondere Pro-
zesse der Konstitution von Wahrnehmungen zuläßt und daß sie den-
noch diese Prozesse unter allgemeine Bedingungen der Möglichkeit
höherer Diskurs- und Synthesisformen stellt47. Die ausgearbeitete und
47 Vgl. Jean Piaget, <Les Mecanismes perceptifs>, Paris 1961.