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Dieter Henrich
war, läßt sich erst wieder erreichen, nachdem die Analyse von weiten,
aber notwendigen Umwegen zurückgekehrt ist, wenn auch nur in dem
Umfang, in dem Kants Textbestand überhaupt durch eine Argumen-
tation zu rechtfertigen ist, die im Prahmen von Kants Prämissen gut
begründet werden kann.
Nicht allen Argumenten, die in Kants Texte hineinspielen, kann
in der transzendentalen Deduktion, die sich auf Einfachheit und
Identität zugleich bezieht, eine Stelle eingeräumt werden. Viele von
ihnen haben sich als irrig erwiesen. Aber schon die Argumente, die sich
an das Schlüsselargument aus der Identität anschließen lassen, ergeben
zusammengenommen eine Argumentfolge von hoher Komplexion.
Kant konnte der Komplexion dieses Zusammenhanges gar nicht
gewachsen sein. Um so erstaunlicher ist es, daß er ihn erschlossen und,
wenn auch unartikuliert und unsicher genug, festgehalten hat und daß
er den in ihn einbezogenen Problembestand besonnen bewahrte. Im
Horizont der Epoche, in der er ausgebildet wurde, ist Kants Ge-
dankengang ganz und gar originell und in hohem Maße produktiv für
den Aufbau einer philosophischen Systematik. Er ist im übrigen auch
in hohem Maße einleuchtend, — unter der Voraussetzung allerdings,
daß man im Ich-Gedanken ein Bewußtsein sieht, das höchste Gewiß-
heit hat und sozusagen apriori über alles ist.
Es wurde schon berichtet, daß Kant unter dem Eindruck stand,
es könne ihm nicht gelingen, die Analyse der letzten Gründe unserer
Erkenntnis in voller Deutlichkeit auszuführen. Die neue Fassung der
transzendentalen Deduktion in der zweiten Auflage der Kritik der
reinen Vernunft hat er so weit wie möglich von ihnen entlastet. Oft hat
man gemeint, die Dunkelheit, die Kant für die erste Auflage ein-
gestand, herrsche nur in den Passagen, in denen Kant verschiedene
besondere Synthesisformen und -bedingungen zu beschreiben versuchte
(A 98 ft.). Nachdem aber der Versuch gemacht ist, die Bedeutung der
Aussagen zu interpretieren, die im Zentrum von Kants gesamter
Theorie stehen, wird man sagen müssen, daß Kant sehr wohl auch für
diesen Bereich die Dunkelheit der Texte, die ihm allein gelingen
wollten, zu beklagen hatte. Das Hauptproblem der Kritik, wie der
Zusammenhang von Ich-Bewußtsein und Regelbewußtsein zu ver-
stehen sei, war von so vielen anderen Problemen betroffen und unter
so viele mögliche Alternativen gestellt, daß es Kant wirklich nicht
gelingen konnte, ihn in derselben Weise im luziden Diskurs zu be-
handeln wie die Grundprinzipien der mathematischen Physik, der
Metaphysik und der Moral. Schopenhauer sagte, wenn man eine
Dieter Henrich
war, läßt sich erst wieder erreichen, nachdem die Analyse von weiten,
aber notwendigen Umwegen zurückgekehrt ist, wenn auch nur in dem
Umfang, in dem Kants Textbestand überhaupt durch eine Argumen-
tation zu rechtfertigen ist, die im Prahmen von Kants Prämissen gut
begründet werden kann.
Nicht allen Argumenten, die in Kants Texte hineinspielen, kann
in der transzendentalen Deduktion, die sich auf Einfachheit und
Identität zugleich bezieht, eine Stelle eingeräumt werden. Viele von
ihnen haben sich als irrig erwiesen. Aber schon die Argumente, die sich
an das Schlüsselargument aus der Identität anschließen lassen, ergeben
zusammengenommen eine Argumentfolge von hoher Komplexion.
Kant konnte der Komplexion dieses Zusammenhanges gar nicht
gewachsen sein. Um so erstaunlicher ist es, daß er ihn erschlossen und,
wenn auch unartikuliert und unsicher genug, festgehalten hat und daß
er den in ihn einbezogenen Problembestand besonnen bewahrte. Im
Horizont der Epoche, in der er ausgebildet wurde, ist Kants Ge-
dankengang ganz und gar originell und in hohem Maße produktiv für
den Aufbau einer philosophischen Systematik. Er ist im übrigen auch
in hohem Maße einleuchtend, — unter der Voraussetzung allerdings,
daß man im Ich-Gedanken ein Bewußtsein sieht, das höchste Gewiß-
heit hat und sozusagen apriori über alles ist.
Es wurde schon berichtet, daß Kant unter dem Eindruck stand,
es könne ihm nicht gelingen, die Analyse der letzten Gründe unserer
Erkenntnis in voller Deutlichkeit auszuführen. Die neue Fassung der
transzendentalen Deduktion in der zweiten Auflage der Kritik der
reinen Vernunft hat er so weit wie möglich von ihnen entlastet. Oft hat
man gemeint, die Dunkelheit, die Kant für die erste Auflage ein-
gestand, herrsche nur in den Passagen, in denen Kant verschiedene
besondere Synthesisformen und -bedingungen zu beschreiben versuchte
(A 98 ft.). Nachdem aber der Versuch gemacht ist, die Bedeutung der
Aussagen zu interpretieren, die im Zentrum von Kants gesamter
Theorie stehen, wird man sagen müssen, daß Kant sehr wohl auch für
diesen Bereich die Dunkelheit der Texte, die ihm allein gelingen
wollten, zu beklagen hatte. Das Hauptproblem der Kritik, wie der
Zusammenhang von Ich-Bewußtsein und Regelbewußtsein zu ver-
stehen sei, war von so vielen anderen Problemen betroffen und unter
so viele mögliche Alternativen gestellt, daß es Kant wirklich nicht
gelingen konnte, ihn in derselben Weise im luziden Diskurs zu be-
handeln wie die Grundprinzipien der mathematischen Physik, der
Metaphysik und der Moral. Schopenhauer sagte, wenn man eine