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Hölscher, Uvo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 3. Abhandlung): Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie: vorgetragen am 6. Februar 1971 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45460#0024
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22

V
"Wenn denn das An sich sein ein prädikatives Sein ist, so hat man es in diesem
Kapitel überhaupt nur mit prädikativen Bedeutungen zu tun. Dies ist mit
Recht von Charles Kahn, in dem wichtigen Aufsatz The Greek Verb <to be>
and the Concept of Being (in: Foundations of Language, Vol. II, 1966,
S. 248 f.) behauptet worden. Denn daß das erste, das akzidentale Sein, wie
auch das letzte Paar, das potentielle und aktuelle, prädikativer Art sind,
liegt auf der Hand. Selbst das Wahrsein, das im Griechischen in der absoluten
Form gebraucht wird, έστι ταυτα, hat Aristoteles nur in der prädikativen
Form im Auge: Sokrates ist (wirklich) musisch.

Eine Analyse des Seins als Wahr-sein, wie sie diesen grammatischen Funktionen
entspräche, findet sich bei Aristoteles nicht. Sie müßte darauf führen, daß der Satz
«Sokrates ist gebildet», als Aussage der Wahrheit, umzuformulieren wäre in: «Es
ist der Fall, daß Sokrates gebildet ist». In diesem Satz ist das zweite «ist» prädi-
kativ, das erste, wenigstens im Griechischen, absolut gebraucht. Nur der letztere
Gebrauch weist die eigentlich «veritative» Bedeutung von sein auf, wie sie Charles
Kahn erläutert hat (in seinem Buch: The Verb <be> in Ancient Greek, Foundations
of Language, Suppl. Series, Vol. 16, S. 331, wo er jedoch auch diese Verwendung
auf einen ursprünglich kopulativen Gebrauch von sein zurückführt). Sie kommt
dem existentialen sein nahe. Aber Aristoteles nimmt eine solche Reduktion des
Wahr-seins auf die absolute Verwendung des Wortes nicht vor (vgl. Θ 10, dazu
unten Kap. VI).
Mehrere Fragen drängen sich sofort auf. Sollte Aristoteles das existentiale
Sein überhaupt nicht gekannt haben? Aber die Sprache kennt seit Anbeginn
das absolut gebrauchte sein, das wir als das existentiale verstehen: έστι πόλις
Έφυρη II. 6. 152, Κρητη τις γαι’ έστι Od. 19. 172. Natürlich hat auch Ari-
stoteles es so gebraucht (z. B. Anal. post. 71 a 26). Die Frage ist, ob er das
absolut gebrauchte sein zur Kenntnis genommen, und wenn: wie er es philo-
sophisch verstanden hat. — Im folgenden soll unter der existentialen Bedeu-
tung nur der strikte Gebrauch im Sinne von existieren, dasein, vorkommen
(es gibt) verstanden werden.
Tatsächlich ist schon das Seiende, das Aristoteles in der akzidentalen
Prädikation aufweist (1017 a 16—22 «weil es einem Seienden zukommt»),
ein absolut gesagtes. Ist damit ein Existierendes gemeint? (So Ross I 308).
Am Anfang der Analytica posteriora erklärt Aristoteles, daß alles wissen-
schaftliche Verstehen auf einem Vorwissen gründet. Dies ist von zweierlei Art:
erstens daß etwas ist, zweitens was etwas ist, d. h. was ein Begriff bedeutet
(71a 11 ff.). Unter dem ersteren versteht man mit Recht den Begriff der
Existenz. Doch muß dieser sehr weit gefaßt werden. Das vorauszusetzende
Daß-sein ist von zweierlei Art (76b 12ff.): erstens das Bestehen oder Vor-
handensein einer «Gattung» als vorausgesetzter Gegenstand einer Wissen-
schaft (Beispiele: die Zahlen, oder Heiß und Kalt), zweitens das Gültig- oder
 
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