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Hölscher, Uvo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 3. Abhandlung): Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie: vorgetragen am 6. Februar 1971 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45460#0028
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26

VI
Der bis hierher festgestellte Befund ist, daß von den beiden Bedeutungen
von sein, deren Verwechslung Eudemos, im Gefolge des Aristoteles, dem
Parmenides vorgehalten haben soll, die eine, die existentiale, in Aristoteles’
Rechenschaft über die mehrfachen Bedeutungen von sein (Δ 7) nicht behandelt
wird, und daß auch sonst nur in sehr bedingter Weise von dem Begriff der
Existenz in einem philosophisch relevanten Sinne die Rede sein kann. Alle
von Aristoteles unterschiedenen Bedeutungen sind solche des prädikativen,
oder richtiger, des kategorialen Seins. Grammatisch ist dies sein die Kopula.
Und doch wäre es voreilig, in der bezeichneten «Zwiefältigkeit» des Seins
die Kopula zu erkennen. Es wurde schon auf die bemerkenswerte Tatsache
hingewiesen, daß Aristoteles, bei der Erklärung der Seinsweise der Kate-
gorien, wie auch des Nicht-seienden, keineswegs auf den kopulativen Sinn
des ist rekurriert; und so tat er es auch nicht bei der Erklärung des akziden-
talen Seins in Δ 7. Ja es fällt auf, daß er anfangs gar nicht von verschiedenen
Bedeutungen von sein spricht, sondern des Seienden: το όν λεγεται . . . Das
Griechische läßt zwar zweierlei Übersetzungen zu: «Das Seiende wird aus-
gesagt . . .», oder «seiend wird gesagt . . .». Das letztere wäre fast gleich-
bedeutend mit dem später (Zeile 22) gebrauchten είναι )\.εγεται. Aber die
unmittelbar anschließende Überlegung, inwiefern in akzidentalen Prädi-
kationen ein Sein ausgesagt werde, gibt die Antwort mit dem Nachweis eines
Seienden, dem die Akzidentien ihr Sein verdanken (a 19—22). Da Aristoteles
das akzidentale sein als das «Zukommen», το συμβεβηκεναι erklärt, könnte
man erwarten, daß das Seiende in dem «Zukommenden» erblickt wird,
also im Akzidens oder Prädikat. Das ist nicht der Fall. Die Prädikate sind
ihm, wie wir gesehen haben, mindestens «keine Seienden im einfachen Sinn
des Worts», ούδ’ όντα ώς ειπειν άπλως (Λ 1, 1069 a 21). Aber auch das gram-
matische Regens, von dem prädiziert wird (όταν . . . λεγομεν τον μουσικόν
άνθρωπον), ist nicht als solches, als Subjekt, das Seiende. Aristoteles meint also
keine grammatisch-logischen Verhältnisse. Seiend ist ihm, was im onto-
logischen Sinne Substanz ist. Es zeigt sich, daß Aristoteles zwar ausschließlich
ein kategoriales Sein im Auge hat, dieses aber nicht als kopulatives versteht.
Das heißt aber, daß für Aristoteles das Sein, auch in seiner kategorialen
Form, letzten Endes ein substantiales Sein ist.
Aber nun: hat nicht Aristoteles mindestens in dem Schlußkapitel des Θ,
wo er das Sein als Wahr-sein behandelt, seine kopulative Funktion deutlich
gemacht? Hier nämlich findet sich die Formulierung: Das Sein ist das Ver-
bundensein, το μεν ειψαι έστι το συμκεισθαι και εν είψαι (1051 b 11). Hiernach
kann es in der Tat scheinen, daß sein als die Verbindung, die die wahre Aus-
sage zwischen einem Gegenstand und seinem Attribut herstellt, erläutert
werde; so daß dem Aristoteles schließlich doch die Entdeckung der Kopula
zuzuschreiben wäre. Ja Aristoteles scheint diese Bedeutung sogar als die
«eigentliche» zu bezeichnen, το κυριωτατα όν.
 
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