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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1981, 2. Abhandlung): Der Prolog der "Bacchen" und die antike Überlieferungsphase des Euripides-Textes: vorgetragen am 18. November 1980 — Heidelberg: Winter, 1981

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https://doi.org/10.11588/diglit.47795#0032
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Albrecht Dihle

das Athen des 4. oder 3. Jh. v. C. sicherlich noch die normale Wieder-
aufführung ganzer Tragödien mit der dazugehörigen Einstudierung des
Chores annehmen dürfen. Aber sind solche Gesamtaufführungen in ir-
gendeiner kleineren Griechenstadt Syriens oder Siziliens während des
2. Jh. v. C. oder des 1. Jh. n. C. sehr wahrscheinlich? Oder am Hof des
Partherkönigs? Woher sollte man den Chor rekrutieren, wenn die Mit-
tel etwas knapper waren? Wo gab es das sachkundige Publikum, das an
regelmäßige, stets wieder neue und im Wettbewerb organisierten Tra-
gödienaufführungen gewohnt war wie im alten Athen? Dieses Publi-
kum hatte zu einem guten Teil die Entfaltung der tragischen Kunst im
Athen des 5. Jh. ermöglicht, weil es offenbar darin geschult war, auch
kleine Differenzierungen der Dramaturgie zu bemerken und zu werten.
Man kann sich kaum vorstellen, daß die Ensembles der Vereine der
dionysischen Techniten in hellenistisch-römischer Zeit überall in der
griechischen Welt die technischen Voraussetzungen und das geeignete
Publikum vorfanden, um mit einem großen Repertoire vollständig ein-
studierter klassischer Tragödien aufzutreten.
In der Tat deuten die zwar nicht eben reichlichen, insgesamt aber
doch unverächtlichen Zeugnisse, die vom Theaterleben der helleni-
stisch-römischen Zeit, insbesondere vom Fortleben der klassischen Tra-
gödie des 5. Jh. auf der Bühne berichten, auf eine ganz andersartige
Praxis: Immer wieder wird man auf den Schluß geführt, daß jene her-
umreisenden Berufsschauspieler und -sänger, von denen z. B. in Ehren-
inschriften die Rede ist, nicht ganze Euripides- oder Sophokles-Tragö-
dien aufführten, sondern einzelne gesungene oder gesprochene Partien
wie Arien, Chorlieder, Botenberichte, Prologe, Stichomythien oder
ganze Szenen. Bei der Darbietung gesungener Partien waren es wohl
vor allem die neuen Melodien, die dem Virtuosen Ruhm brachten, und
immer wird man sich den Vortrag mit mimischem Aufwand vorzustel-
len haben. Daß TQOtyoL)öi(ov) zum volkssprachlichen Wort für „Lied“
werden konnte, hängt mit dieser Praxis des Theaters der hellenistisch-
römischen Zeit zusammen. Cantare ist der Terminus technicus für die
Tätigkeit des tragischen Schauspielers im Rom der Kaiserzeit (Suet.
Nero 21; 22; 46).
Das bekannteste Zeugnis dafür, daß Schauspieler in der Kaiserzeit
mit Einzelnummern aus klassischen Tragödien auftraten, wobei es auf
die musikalische und die mimische Leistung ankam, bieten die Nach-

zeugten Wiederaufführungen klassischer Tragödien innerhalb wie außerhalb Athens
seit dem 4. Jh. v. C. dominieren die Stücke des Euripides durchaus.
 
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