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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1981, 2. Abhandlung): Der Prolog der "Bacchen" und die antike Überlieferungsphase des Euripides-Textes: vorgetragen am 18. November 1980 — Heidelberg: Winter, 1981

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https://doi.org/10.11588/diglit.47795#0108
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106

Albrecht Dihle

IVf
Wer sich durch die in den beiden vorangehenden Abschnitten vorge-
tragenen Beobachtungen und Erwägungen davon hat überzeugen lassen,
daß die Schlußszene der ‘Phoinissen’ vom Vers 1485 an in der überlie-
ferten Form schwerlich dem originalen Entwurf der Tragödie zuzurech-
nen sei, wird sich natürlich die Frage vorlegen, wie man den Text des
Euripides wiedergewinnen könne. Hier ist größte Vorsicht geboten.
Rechnet man nämlich ernstlich mit der Möglichkeit, daß unser Text
Einzelszenen enthält, die für eine isolierte Aufführung ohne durchge-
hende Rücksicht auf die Ökonomie der Tragödie insgesamt arrangiert
wurden, dann ist die Zahl der Möglichkeiten einer Verschmelzung von
Echtem und Zugedichtetem kaum abzusehen. Anders als unter der
Voraussetzung, daß das Drama für eine Gesamtaufführung überarbei-
tet wurde, ist es dann kaum noch sinnvoll, durch die Athetese einzelner
Verse oder Versgruppen die originale Gesamtkomposition von der
überarbeiteten abzuheben.
Daß nicht alle die 1485ff. zur Sprache gebrachten Motive zur Origi-
naldichtung des Euripides gehören können, wird wohl kaum jemand be-
streiten. Aber welche unter ihnen im echten Schlußteil vorkamen, wo
also Euripides Anknüpfungs- und Erweiterungsmöglichkeiten für einen
späteren Bearbeiter gleichsam bereitgestellt hatte, läßt sich nicht mehr
ermitteln.
Die Tragödie kann nicht nach dem zweiten Botenbericht mit den
Choranapästen 1480-84 geschlossen haben. Zwar ist an diesem Punkt
die spezifische, von Euripides konzipierte und exponierte Handlung zu
ihrem Telos, zu Ende und Erfüllung, gekommen, aber formale Gründe
schließen dieses Ende des Bühnenstückes aus. Es kann sehr wohl noch
ein - dramatisch kaum notwendiges - Auftreten des blinden Oedipus,
auch wohl als Partner im Klagegesang der Antigone gegeben haben.
Daß Oedipus noch in Theben lebt, wird in der Prologrede (63) und vor
dem ersten Botenbericht (1088) erwähnt, beide Male von Jokaste, im
Dialog Kreon/Eteokles vorausgesetzt (763ff.) und von Teiresias erläu-
tert (872ff.). Oedipus’ Anwesenheit gehört also zur spezifischen Gestalt
des Mythos in der von Euripides gewählten und ausgestalteten Fassung.
Es wäre darum nicht merkwürdig, wenn der Blinde am Schluß des Stük-
 
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