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Albrecht Dihle
der Inhalt gerade euripideischer Tragödien in nachklassischer Zeit ge-
wesen sein muß, darauf wurde schon hingewiesen (o.S. 29). Man kann
noch hinzufügen, daß auch die bildende Kunst immer wieder Zeugnisse
für spezifisch euripideische Versionen des Mythos liefert13.
Wenn sich demnach späte, d. h. in oder nach der hellenistischen Zeit
konzipierte und in den Text geratene Schauspielerinterpolationen in
unserem Euripides-Text befinden, werden sie sich vermutlich in einigen
Fällen durch besonders grobe Verstöße gegen die Ökonomie des origi-
nalen Dramenentwurfs auszeichnen, ohne daß dabei der Bearbeiter die
Notwendigkeit verspürte, diese Verstöße durch kleinere Retouchen an
anderen Stellen der Tragödie auszugleichen und eine neue Einheitlich-
keit herzustellen.
Freilich muß die Erwägung der Möglichkeiten, die für das Eindringen
solcher Interpolationen und ihre Überlieferung in unseren Euripides-
Text bestanden, noch einen Schritt weitergehen.
Wenn Schauspielerinterpolationen wie im 4. Jh. v. C. so auch in nach-
klassischer Zeit in einen Text gerieten, der durchaus zur Lektüre be-
stimmt war, wenn aber gerade etliche dieser ‘späten’ Interpolationen
erhebliche Störungen der Folgerichtigkeit des Dramas verursachten, er-
gibt sich natürlich die Frage, ob man denn den Lesern dieser Texte der-
lei Unstimmigkeiten zumuten konnte. Die Verbreitung von Theater-
und Lesetexten unter den Papyri aus Ägypten legt die Annahme nahe,
daß durchaus ein überarbeiteter Botenbericht oder eine bereicherte
und veränderte oder gar neu geschaffene Liedszene in ein Leseexem-
plar der betreffenden Tragödie aufgenommen wurde, wenn etwa solche
Partien in der überarbeiteten Version auf der Bühne ihr Glück gemacht
und eine gewisse Berühmtheit gewonnen hatten. Aber ebenso, wie für
das Publikum einer Gesamtaufführung der tiefere Eingriff an einer
Stelle durch weitere Zusätze oder Änderungen mit dem übrigen Gang
der Bühnenhandlung in Einklang gebracht werden mußte, so forderte
auch die Herstellung des Leseexemplars einer ganzen Tragödie, das sol-
che von der Bühne übernommenen Interpolationen für den Leser durch
weitere Textänderungen mit dem Aufbau des Stückes in Einklang ge-
bracht wurden - es sei denn, daß man den präsumptiven Lesern eine ge-
wisse Unempfindlichkeit gegenüber den Unstimmigkeiten zutraute
oder eine Ansammlung besonders packender Einzelszenen für wichti-
ger hielt als die Stringenz der Handlung. Daß aber bei der Herstellung
des Lesetextes einer Tragödie in nachklassischer Zeit Einzelszenen in
13 T. B. L. Webster, Monuments Illustrating Tragedy and Satyr Play, London 21967.
Albrecht Dihle
der Inhalt gerade euripideischer Tragödien in nachklassischer Zeit ge-
wesen sein muß, darauf wurde schon hingewiesen (o.S. 29). Man kann
noch hinzufügen, daß auch die bildende Kunst immer wieder Zeugnisse
für spezifisch euripideische Versionen des Mythos liefert13.
Wenn sich demnach späte, d. h. in oder nach der hellenistischen Zeit
konzipierte und in den Text geratene Schauspielerinterpolationen in
unserem Euripides-Text befinden, werden sie sich vermutlich in einigen
Fällen durch besonders grobe Verstöße gegen die Ökonomie des origi-
nalen Dramenentwurfs auszeichnen, ohne daß dabei der Bearbeiter die
Notwendigkeit verspürte, diese Verstöße durch kleinere Retouchen an
anderen Stellen der Tragödie auszugleichen und eine neue Einheitlich-
keit herzustellen.
Freilich muß die Erwägung der Möglichkeiten, die für das Eindringen
solcher Interpolationen und ihre Überlieferung in unseren Euripides-
Text bestanden, noch einen Schritt weitergehen.
Wenn Schauspielerinterpolationen wie im 4. Jh. v. C. so auch in nach-
klassischer Zeit in einen Text gerieten, der durchaus zur Lektüre be-
stimmt war, wenn aber gerade etliche dieser ‘späten’ Interpolationen
erhebliche Störungen der Folgerichtigkeit des Dramas verursachten, er-
gibt sich natürlich die Frage, ob man denn den Lesern dieser Texte der-
lei Unstimmigkeiten zumuten konnte. Die Verbreitung von Theater-
und Lesetexten unter den Papyri aus Ägypten legt die Annahme nahe,
daß durchaus ein überarbeiteter Botenbericht oder eine bereicherte
und veränderte oder gar neu geschaffene Liedszene in ein Leseexem-
plar der betreffenden Tragödie aufgenommen wurde, wenn etwa solche
Partien in der überarbeiteten Version auf der Bühne ihr Glück gemacht
und eine gewisse Berühmtheit gewonnen hatten. Aber ebenso, wie für
das Publikum einer Gesamtaufführung der tiefere Eingriff an einer
Stelle durch weitere Zusätze oder Änderungen mit dem übrigen Gang
der Bühnenhandlung in Einklang gebracht werden mußte, so forderte
auch die Herstellung des Leseexemplars einer ganzen Tragödie, das sol-
che von der Bühne übernommenen Interpolationen für den Leser durch
weitere Textänderungen mit dem Aufbau des Stückes in Einklang ge-
bracht wurden - es sei denn, daß man den präsumptiven Lesern eine ge-
wisse Unempfindlichkeit gegenüber den Unstimmigkeiten zutraute
oder eine Ansammlung besonders packender Einzelszenen für wichti-
ger hielt als die Stringenz der Handlung. Daß aber bei der Herstellung
des Lesetextes einer Tragödie in nachklassischer Zeit Einzelszenen in
13 T. B. L. Webster, Monuments Illustrating Tragedy and Satyr Play, London 21967.