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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1981, 2. Abhandlung): Der Prolog der "Bacchen" und die antike Überlieferungsphase des Euripides-Textes: vorgetragen am 18. November 1980 — Heidelberg: Winter, 1981

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https://doi.org/10.11588/diglit.47795#0058
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Albrecht Dihle

Eine Jokaste, die man um 410 v. C. auf die athenische Bühne brach-
te, wurde mit großer Wahrscheinlichkeit vom Publikum mit der gleich-
namigen Rolle im ‘König Oedipus’ verglichen. Das gilt gewiß auch für
die Jokaste der ‘Phoinissen’, obgleich ihr Auftreten dort auf gegenüber
dem sophokleischen Drama veränderten Voraussetzungen beruht: Eu-
ripides läßt Jokaste die Katastrophe des Oedipus überleben und den
blinden Oedipus nicht in die Verbannung gehen, sondern im Palast ein-
geschlossen weiterleben. Vergleicht man nun, ungeachtet dieser Ver-
schiedenheit in den Voraussetzungen, die beiden Jokaste-Rollen mit-
einander, so wird sogleich deutlich, daß eine nicht ohne die andere ge-
schaffen wurde.
Im ‘König Oedipus’ erweist sich Jokaste als diejenige, die im Verlauf
der Aufdeckung der verhängnisvollen Wahrheit ihre und ihres Mannes
Gefährdung rascher erkennt, die darum bereit ist, sich mit der halben
Wahrheit zu begnügen, die vor allem Frieden und Bestand der Familie
erhalten will. Sie sucht mit Aktivität und Scharfsinn Möglichkeiten des
Überlebens zu finden, wo es Oedipus mit derselben Intensität des intel-
lektuellen Bemühens nur um die Wahrheit geht, deren Zutagetreten die
Stadt retten, ihn aber vernichten wird.
Eher als Oedipus erkennt Jokaste dann auch die volle Wahrheit, und
diese Erkenntnis setzt all ihrer Aktivität ein Ende. Die letzte Unterre-
dung zwischen den Ehegatten (1053-1072) rückt den Kontrast im Ver-
halten der beiden ins hellste Licht. Still und ohne Aufhebens geht Joka-
ste aus dem Leben, als sie Klarheit über ihre und ihres Mannes Vergan-
genheit gewonnen hat.
Daß sich Jokaste das Leben nimmt, nachdem die Identität ihres Gat-
ten ans Licht gekommen ist, erwähnt Sophokles auch in der ‘Antigone’
(1253), also in einer gegenüber dem ‘König Oedipus’ beträchtlich älte-
ren Tragödie, und es wäre immerhin denkbar, daß auch in Aischylos’
thebanischer Trilogie dieses Motiv vorkam. Wie dem auch sei - für die
Jokaste des sophokleischen ‘König Oedipus’ ist jedenfalls charakteri-
stisch, daß sie am Geschehen den lebhaftesten Anteil nimmt, mit ihrer
Aktivität ein eigenes Ziel verfolgt, das nicht mit demjenigen des Oedi-
pus übereinstimmt, und ihrem Leben ein Ende setzt, als sich ihre Tätig-
keit als vergeblich erwiesen hat. Für die Jokaste der ‘Phoinissen’ gilt -
unter völlig anderen Randbedingungen - dasselbe. Auch hier eine Ak-
tivität, die nicht am Ziel der Bewahrung der Stadt orientiert ist wie das
Handeln des Kreon und des Eteokles, sondern sich allein auf die Ver-
söhnung der Brüder, auf die Wiederherstellung des Familienfriedens
richtet. Dieses Ziel aber verfolgt Jokaste in der Darstellung des Euripi-
 
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